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Colosseum / Live ’71 – DCD-Review

Colosseum / Live '71

Die letzten Tage waren für mich wie eine Zeitreise in die Anfänge der Rock-Kultur. Fünf neue und gleichzeitig sehr alte Werke einer faszinierenden Band retrospektiv zu durchleben macht Spaß und vermittelt einem damals noch viel zu kleinen Erdenbürger nachträglich wenigstens ein bisschen von dem Spirit, den diejenigen empfunden haben mögen, als die Post live abging.

Fünf mal Colosseum Live, verteilt auf gerade mal zwei Jahre. Es müssen zwei intensive Jahre gewesen sein, denn der Reifeprozess der Band, die sich zwischenzeitlich auf zwei Positionen (Gesang und Gitarre) nachhaltig veränderte, ist über die Gigs eindeutig zu erkennen – genauso wie eine Weiterentwicklung der musikalischen Ausprägung, vielleicht kann man sogar sagen, der grundsätzlichen Ausrichtung. Dazu später.

Nachdem ich bei den ersten vier CDs sehr songorientiert und manchmal recht derbe, wild und fast wollüstig über eine zutiefst bodenbehaftete Musik berichtet habe, die man durchaus auch wild und wollüstig empfinden kann, möchte ich dem Beispiel der Band folgen, die hier in unserem Finale der 'colossalen' Betrachtungen einen erstaunlich abgeklärten Eindruck hinterlässt und kehre zurück zu einer etwas beruhigten Syntax.

Zu diesem Zeitpunkt, als die Aufnahmen entstanden, war das Team Colosseum perfekt eingespielt und die Charaktere von Chris Farlowe und Clem Clempson längst voll integriert. Ich mag sogar behaupten, dass die entscheidend dazu beitrugen, dass der ursprünglich deutlich mehr am Jazz orientierte Duktus der Band inzwischen ein deutliches Stück in Richtung Blues Rock abgerückt war. Die hinreißend soulige Stimme von Chris vermittelt ungeheure Dynamik und Power und Clem spielt eine magische Gitarre, die eben volltrunken von Rock und Blues elaboriert. Seine späteren Tätigkeiten bei Humble Pie, Jack Bruce & Friends oder der Hamburg Blues Band haben das jahrzehntelang unter Beweis gestellt.

In diesen Tagen erreichte uns auf unserer Facebook-Seite eine Anfrage unseres Lesers Micha bezüglich einer Reihenfolge der Aufnahmen hinsichtlich der Tonqualität. Nun, gewöhnlich halte ich mich aus solchen Diskussionen eher raus, da ein Hörempfinden sehr subjektiv und daher unterschiedlich sein kann. Hier aber ist die Frage berechtigt, da sich alle fünf Alben im Prinzip aus alten und bislang nicht verwendeten Bändern generieren – wer mit Bootlegs Erfahrung hat, weiß, dass das Spektrum dort sehr breit gefächert ist.

Wie bereits im Vorfeld erwähnt, hat Joachim Heinz Ehrig alias Eroc mit Clem Clempson hier wunderbare Arbeit geleistet. Doch Unterschiede sind natürlich vorhanden, die Qualität des Basismaterials wird ausgesprochen unterschiedlich gewesen sein.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die hier vorliegende Doppel-CD klanglich am besten abschneidet, sie liegt nahe am Original-Album Live. Dahinter rangiert für mein Empfinden das Konzert Live At Ruisrock Festival, dass auch einen vollen und sehr transparenten Sound anbietet, auch unter dem Kopfhörer. Boston liegt nur unwesentlich und knapp dahinter, aus diesem Material ist ja damals auch eine inoffizielle Platte entstanden. An dieser Stelle empfinde ich dann schon einen Qualitätssprung hin zu Montreux, während Rom am ehesten wie ein gutes Bootleg klingt, dort gibt es die meisten Einbußen.
Historisch äußerst wertvolle Musik einer stilprägenden Band, freuen wir uns, dass wir solche Relikte unserer Kultur überhaupt über moderne Medien abspielen können.

Warum sind die Aufnahmen auf "Live ’71" so gut? Nun, es waren die Tage, da die Band ihre Konzerte für ihr Live-Album aufzeichnete. "Live" rekrutierte sich letztlich aus Nummern, die in der Manchester University und dem Big Apple in Brighton mitgeschnitten wurden. Offensichtlich spielte die Band dort an einigen Tagen hintereinander und auch hier bekommen wir bislang unveröffentlichtes Material aus jenen beiden Locations, nämlich auf der zweiten CD. Die erste Scheibe ist komplett mit Aufnahmen aus Canterbury bestückt.

Die Setlist dort ist der des offiziellen Albums "Live" sehr ähnlich und umfasst all die Kracher jener bluesigen Epoche, gipfelnd in dem überwältigenden "Lost Angeles". Freund Manni schrieb mir dieser Tage, dass er die Originalversion von 1971 noch besser findet und da stimme ich ihm zu. Der Spannungsbogen dort ist einfach nicht zu toppen, Clem Clempson solierte damals wie auf einem magischen Fluss treibend direkt in in eine höhere Dimension hinein. Sicher eines der großartigsten Gitarrensoli der Rockgeschichte. Aber ich liebe es auch, tolle Songs in unterschiedlichen Versionen wahrnehmen zu können, meine Lieblingsmaultiere von Gov’t Mule haben mich viele Jahre damit verwöhnt und es gibt immer eine Version ihrer Klassiker, die mal hier oder mal da ganz besonders toll war. Gut, dass man all ihre Konzerte als Download erwerben kann – hab ich reichhaltig Gebrauch von gemacht.

Wie gesagt, besonders markant sind hier die Blues-Kracher "Walking In The Park" und "Skellington", während das stark von Dick Heckstall-Smith geprägte "Tanglewood ’63" gleich zu Beginn so etwas wie die Klammer zu den Gründertagen darstellt. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Dave Greenslades herrlich murmelnde Orgel sich immer mehr mit Mark Clarkes Bass auf die rhythmische Basis beschränkt, während Jon Hiseman immer noch trommelt wie von einem anderen Stern.

Als damals das Album "Live" erschien, wurde es von der Fachwelt gefeiert. Aber bei den Fans der ersten Stunde hinterließ es eben auch eine schmerzliche Lücke, denn die "Valentyne Suite" fehlte. 2016 produzierte dann Cherry Red Records eine Sonder-Edition mit einer zweiten CD, die von der Songauswahl her identisch ist mit der hier vorliegenden CD 2, abgesehen davon, dass der "Stormy Monday Blues" dort vor der "Valentyne Suite" platziert wurde. Da ich diese Version nicht kenne verlasse ich mich auf mein Info-Material, wo im Bezug auf die Platte von 2020 von unveröffentlichtem Material gesprochen wird.

Mir gefällt, dass "Rope Ladder To The Moon" hier ein paar Minuten länger läuft und Dave Greensdale mehr Zeit hat für ein inspirierendes Georgel. Diese Nummer und "Skellington" stehen übrigens für Brighton, der Rest wurde dann in Manchester eingespielt. Interessant auch, dass dies an der Uni der Fall war. Im Netz wird häufig darüber berichtet, dass Colosseum, insbesondere in der noch jazzigeren Orientierungsphase besonders in der intellektuellen Szene beliebt gewesen sei. Es wird sogar darüber spekuliert, dass dies bei progressiver Musik prinzipiell zu erkennen wäre. Ich weiß nicht, als ich in den ersten Jahren nach dem Jahrtausendwechsel sehr viele Prog-Konzerte besuchte, hatte ich nicht zwingend den Eindruck, dass die Enthusiasten dort so ganz viel schlauer waren als andere. Vermutlich alles nur Klischee.

Die "Valentyne-Suite" kommt übrigens in der europäischen Variante mit "The Grass Is Always Greener" als Teil 3. Im amerikanischen Original gehört eigentlich "Beware The Ides Of March" dazu. Stilistisch ist die Suite so etwas wie der jüngere Bruder von "Lost Angeles", wenn man das so sagen darf. Beide Kompositionen sind sich in ihrer Struktur nicht ganz fremd. Diese Version ist ein Geschenk des Himmels, bringt sie uns dieses kolossale Werk doch live und in einer großartigen Soundqualität – ein Stück festgehaltener Kulturgeschichte für unsere Nachfahren.
Ein kurzer knackiger Blues setzt das I-Tüpfelchen unter das Album.

Damit bin ich am Ende meiner Colosseum-Retrospektive angelangt. Es hat mich tiefer in eine Musik eindringen lassen, die ich immer schon toll fand, aber die ich nun vielleicht ein Stück weit noch besser verstehe. Wer zwischen Jazz, Rock und Blues vermittelt, der verbindet die Wurzeln all dessen, woraus sich unsere Kultur definiert. In dieser Form hat es niemals wieder eine Formation geschafft, diese Säulen so aufregend zu verbinden wie Colosseum. Zwei unserer Helden sind nicht mehr bei uns, Dick Heckstall-Smith verstarb bereits 2004 und Jon Hiseman folgte ihm schließlich im Jahr 2018. Ihre Namen werden in der Geschichte präsent bleiben, als Begründer einer der innovativsten Bands der Musikgeschichte. Lassen wir spätere Wiedervereinigungen mal ganz außen vor, dann haben sie dennoch in drei Jahren eine unfassbar fulminante Entwicklung hingelegt und der Welt ein einzigartiges Vermächtnis hinterlassen. Ich fühle mich geehrt, dass ich diese Musik besprechen durfte.


Line-up "Colosseum":

Jon Hiseman (drums)
Dave Greenslade (keyboards, vibraphone)
Dick Heckstall-Smith (saxophone)
Mark Clarke (bass, vocals)
Dave 'Clem' Clempson (guitar)
Chris Farlowe (vocals)

Tracklist "Live ’71":

CD 1 (Canterbury):

  1. Tanglewood ’63
  2. Rope Ladder To The Moon
  3. Walking In The Park
  4. Skellington
  5. The Machine Demands A Sacrifice
  6. Lost Angels

CD 2 (Manchester & Brighton):

  1. Rope Ladder To The Moon
  2. Skellington
  3. I Can’t Live Without You/The Time Machine/The Machine Demands A Sacrifice
  4. The Valentyne Suite
    – January’s Search
    – February’s Valentyne
    – The Grass Is Always Greener
  5. Stormy Monday Blues

Gesamtspielzeit: 74:14 (CD 1), 73:34 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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4 Kommentare

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  1. Ralf Krämer

    Danke Manni,

    das erweiterte Live-Album habe ich, so wird es Vinyl (ist aus haptischen Gründen ohnehin bevorzugt).

    lg. Ralf

  2. Ralf Krämer

    oh je, helft mir. Ich bin Colosseum-Fan der ersten Stunde und es war mein erstes Livekonzert in Berlin (noch in der seligen Deutschlandhalle).

    nun gibt es dieses famose Konzert von 1971 aus England sowohl auf CD als auch Vinyl, auf Vinyl fehlen Titel und ich kann mich nicht entscheiden was ich bestellen soll. Ich tendiere zu Vinyl, aber sind die fehlenden Stücke zu verschmerzen?

    Liebe Grüße

    Ralf

    1. Manni

      Hi Ralf,

      Auf den LPs fehlen einmal die 15-Min. Version von "The Machine Demands A Sacifice" (dieses Schlagzeugsolo kann man sich m.E. schenken, die andere Version – als Bestandteil von "I Can’t Live Without You" und dem weiteren Schagzeugsolo "The Time Machine" ist ja auch auf der Vinyl-Ausgabe). Zudem fehlt die 11-Min. Version von "Rope Ladder To The Moon" aus dem Brighton-Mitschnitt und die 21-minütige "Valentyne Suite" aus Manchester. Da ja "Rope Ladder To The Moon" aus Canterbury vorliegt, wäre für das für mich auch zu verschmerzen. Einzig die Valentyne Suite ist essenziell, aber genau diese Version gab es schon auf der 2-CD Ausgabe der "Colosseum Live" von Esoteric Records in 2009. Falls du die hast, kannst du beruhigt die LPs nehmen.

  3. Manni

    Hi Michael,

    wie du ja weißt, hab ich hier eine inoffizielle CD, mit alternativen Versionen und frühen Live-Mitschnitten. Darauf findet sich ein sehr kurzes Interview aus 1969 mit Jon Hiseman aus der TV-Show "Top of the Pops" vor dem Auftritt der Band. Er erklärt, wie sich in kurzer Zeit die Musikszene rapide änderte:

    Interviewer: And now, first time on the show for a group whose music may strike you more as jazz than pop. The’re called "Jon Hiseman’s Colosseum" and here’s Jon. Jon, where are you aiming with your music, would you say?

    Jon: Well, we’re aiming at the listening audience that’s developed in the clubs over the past two years I suppose. Prior to this period music had to be danceable, and tempos had to be danceable or constant anyway. Nowadays in the LP market and in the clubs people stand and listen and wanna hear music. It doesn’t has be danceable so we competely missed out a whole section and things have changed completely.

    Interviewer: And do you think there’s a big buying audience that’s all growing?

    Jon: Certainly, a collossal buying audience in America where we’re going shortly and in this country it’s developing very, very rapidly indeed.

    Interviewer: That’s tremendous, thank you Jon. Will you pick a number that you’re doing for us from the forthcoming album… you play for us now?

    Jon: I certainly will. It’s called "Beware The Ides of March".

    Hier ein historisches Video von Lost Angeles vom 18. Februar 1970 in Amsterdam (schon mit Clem, aber noch ohne Chris. DHS bläst zwei Instrumente gleichzeitig…).

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