Colosseum war eine Supergroup des Jazz Rock. Sie haben das magische Dreieck aus Rock, Jazz und Blues beackert wie vielleicht niemand zuvor. Dies begründet sich zum einen aus den vielschichtigen Kompositionen, vor allem aber dem unglaublichen musikalischen Talent eines jeden einzelnen Musikers, was der Band unerschöpfliche Möglichkeiten in der Improvisation verschaffte. Drei überaus hektische Jahre operierte diese Band am Limit des Möglichen, 1971 trennte man sich und ging seiner Wege.
Als 1994 das Comeback dieser legendären Formation angekündigt wurde, kam das einer Sensation gleich und ich erinnere mich, wie begeistert ich auf die Nachricht reagiert habe. Das Rockpalast-Konzert hab ich dennoch verpasst und später nur einige Ausschnitte davon zu sehen bekommen. Internet war noch nicht. Die Formation, und das war ein Teil der Sensation, entsprach dem letzten Line-up von damals. Neben den Gründungsmitgliedern Jon Hiseman, Dick Heckstall-Smith und Dave Greenslade agieren hier Clem Clempson, Mark Clarke und Chris Farlowe, die 1969 respektive 1970 zur Combo stießen.
Das Album bietet ein grandioses Best of der Band mit all ihren epochalen Klassikern, die in ihrer Art Geschichte geschrieben haben. Die Urgewalt der Stimme von Chris Farlowe, der wie ein Vulkan ausbricht, aber sehr viel entspannter performt als in der wilden Vergangenheit. Die unbeschreiblich virtuosen Solo-Ausbrüche der Instrumentalisten, ein Stück weit für mich als Saiten-Freak kulminierend in Clems magischer Arbeit im "Stormy Monday Blues" oder Daves fantastisches Georgel in der "Valentyne Suite" hatten die Tonkunst der aufbegehrenden Rockmusik beeinflusst und Jon Hiseman war die Antriebsmaschine. Kaum einer vermochte in der Rockmusik seine Truppe derart nach vorn zu peitschen wie er. Dabei hatte er zuvor klassisch Piano und Geige gelernt (letzteres trifft übrigens auch auf Ian Paice von Deep Purple zu), scherte sich auch später nicht um Grenzen in der Musik und wurde so zu einem Urvater der Fusion. Ach ja, nicht zu vergessen Dicks legendäre Soli, wenn er zeitgleich zwei Saxofone bediente.
Wenn ich mir heute also mal wieder die "Valentyne Suite" anhöre, bekomme ich neben den üblichen Gänsehautpartikeln auf der Haut immer mehr das Gefühl, dass vielleicht gerade dieses epische Werk einen massiven Einfluss auf Musiker aus ganz unterschiedlichen Stilrichtungen gehabt haben muss. Wenn man sich die Anfänge von Deep Purples Mark II-Besetzung, insbesondere in den Improvisationen auf der Bühne vergegenwärtigt, bei den frühen Yes oder Focus (die choralen Gesänge in der Suite klingen fast wie ein Vorgriff auf deren Werke) reinhört, dann mag man da durchaus Verwachsungen erkennen, die auf Colosseum zurückgehen könnten. Und mal ganz ehrlich, die "Valentyne Suite" ist somit auch so etwas wie die Geburtsstunde des progressiven Rocks beziehungsweise des Art Rocks, der sich im Laufe der Zeit jedoch von den klassischen Strukturen der Rockmusik immer mehr weg zur eher symphonischen, wenn nicht sogar ambienten Stilrichtung entwickelte – etwas, was für Colosseum mit ihrem unfassbar bodenständig verwachsenen Stil zu den Wurzeln des Jazz und Blues völlig undenkbar gewesen wäre. Nein, Colosseum spielten Fusion, lange bevor dieser Begriff überhaupt definiert wurde. Aber sie haben andere zu neuen Richtungen animiert. Dieses Attribut kann man nicht allzu vielen verleihen.
Dass wir ein Cover geboten bekommen, welches zu den wohl meistgespielten Gastsongs in der Rockmusikgeschichte zählt, freut mich riesig – nämlich "Theme For An Imaginary Western". Für Clem auch eine Hommage an seine Zeit mit dem großen Jack Bruce, der den Song mit Pete Brown einst geschrieben hat. Als Jack Bruce & Friends waren sie Anfang der Achtziger gemeinsam unterwegs und schauten auch damals schon im Rockpalast vorbei. Immer wieder schön, über solche Wurzeln zu stolpern. Und na klar, "The Machine Demands Another Sacrifice" darf auch hier in der Tracklist nicht fehlen und ist, wie schon immer, der Auftakt für ein ausladendes Drum-Solo von Jon, hier der Geografie geschuldet "Solo Colonia" betitelt. Allemal besser als Solo Corona, aber auch diesen Song gäbe es, wenn man einen Buchstaben austauscht. Nicht im Portfolio von Colosseum natürlich.
"Lost Angeles" war damals 1971 einer meiner absoluten Favoriten, er wird auch hier gespielt. Marks monotoner Basslauf, Dave, der hypnotische Doors-Sounds aus seiner Orgel zaubert, der Groove ist von Beginn an mitreißend und antörnend. Die Nummer ist ein wenig strukturierter als ihr berühmter Vorgänger "Valentyne", aber auch "… Angeles" könnte man heute als Synonym heranziehen, wenn man einem jungen Menschen die wahren Werte der Rockmusik nahebringen wollte. Dramatische Strukturen und Breaks, ekstatische Crescendi und überragende individuelle Virtuosität. Kommt alles zusammen, ergibt es eben Legendenstatus. Ganz nebenbei stehen Clems Saiten am Ende des Songs kurz vor der Pulverisierung, der Junge spielt sich geradezu die Finger wund und das geneigte Publikum ist äußerst erfreut. Quatsch, zu diesem Zeitpunkt tobte das E-Werk.
Okay, dass ich der Gitarrenarbeit in "Stormy Monday Blues", in Köln die erste Zugabe, vorsichtig formuliert sehr zugetan bin, habe ich schon am Anfang verraten. Dieser Song lebt aber vor allem von der zündelnden Energie zwischen Chris uns seiner eruptiven Stimme und eben Clems unschlagbarem Gefühl für den Blues. Diese Nummer treibt dich zum Äußersten, vor der Bühne wäre es die Zeit für Zerrungen im Nackenbereich. So gesehen ist es aus medizinischen Hintergründen zu begrüßen, dass man sich verhältnismäßig kurz fasst – kurz und knapp und doch genial. Eine längere Version findet man auf CD 2 als Schlussnummer aus Freiburg. "Walking In The Park" macht dann einen jazzigen Deckel drauf.
Das Album und die dazu gehörige Bildaufnahme bedient sich des (glücklicherweise kompletten) WDR-Rockpalast-Konzerts vom 28. Oktober 1994 im Kölner E-Werk, nur auf CD 2 finden sich zusätzlich zwei Nummern vom Zelt-Musik-Festival in Freiburg vom 24.Juni 1994, nämlich "Those About To Die" und "Stormy Monday Blues" als Alternativversionen zum Kölner Konzert. Interessanterweise bildete letzterer Gig damals den Grundstock für das Live-Album "The Reunion Concerts Live 1994". Wie herrlich für Fans, das Repertoire Records nun endlich den Lückenschluss in jener faszinierenden Zeit der Wiedergeburt der Band vollziehen. Jetzt, wo all das auch schon bald wieder dreißig Jahre her ist und Dick und Jon uns verlassen haben. Immerhin wird das Gedenken an den Band-Gründer Jon Hiseman auch dadurch weiter gepflegt, dass seine Frau Barbara Thompson 2004 für den verstorbenen Dick Heckstall-Smith am Saxofon in die Band einstieg. Was man bei der Betrachtung beziehungsweise dem Anhören der Musik bedenken muss, ist die Tatsache, dass die Kompositionen aus einer anderen Zeit, einer anderen Generation stammen. Colosseum war 1971 Geschichte (die Generation II zähle ich hier bewusst nicht mit), die Musiker hingegen hatten allesamt dreiundzwanzig Jahre Entwicklung hinter sich gebracht. Allein diese Tatsache machte die Sache damals so aufregend und spannend.
Ach ja, das Mastering erfolgte wie schon bei den Veröffentlichungen alter Colosseum-Konzerte vor ein paar Jahren wieder durch unseren sehr geschätzten Meister des guten Klanges, Herrn Joachim Heinz Ehrig, den wir alle kurz als Eroc verehren und lieben. Eine bessere Garantie für geilen Sound könnte es nicht geben.
Colosseum haben für sich einst einen wahrhaft zutreffenden Namen ausgewählt. Sie stehen zeitlos wie das berühmte Bauwerk wie ein Fels in der Brandung der Zeit, majestätisch, erhaben, voller künstlerischer Inspiration. Stilprägend und alles überdauernd. Ein wichtiges Dokument, fast mittendrin zwischen ihrer dramatischen Hauptphase und den heutigen Tagen, ist uns nun zugänglich gemacht worden. Die Geschichte der Rockmusik, insbesondere dort, wo sie sich mit Jazz und Blues einst vereinte, wird ein Stück weit nachvollziehbarer. Fans muss man dieses Album nicht nahelegen, sie dürften es längst erworben haben. Aber für alle diejenigen, die verstehen möchten, wie Blues und Jazz einst in den Rock hineinkamen und inzwischen für so viel Diversität und stilistische Vielfalt sorgen, denen mag ich diese Musik wärmstens ans Herz legen.
Schaut/hört es Euch an und ihr werdet verstehen. Damals waren sie Künstler, die Jungs von Colosseum, ihrer Zeit weit voraus. Ohne Colosseum, Miles Davies und Jimi Hendrix wäre unsere Musik nicht das geworden, was sie heute ist.
Line-up Colosseum:
Jon Hiseman (drums)
Dick Heckstall-Smith (saxophone)
Dave Greenslade (keyboards)
Clem Clempson (guitar)
Chris Farlowe (vocals)
Mark Clark (bass)
Tracklist "The Reunion Concerts 1994":
CD 1:
- Those About To Die
- Skelington
- Elegy
- Tanglewood ’63
- The Valentyne Suite
- January’s Search
- February’s Valentyne
- The Grass Is Always Greener
- Rope Ladder To The Moon
CD 2:
- Theme For An Imaginary Western
- The Machine Demands Another Sacrifice
- Solo Colonia
- Lost Angeles
- Stormy Monday Blues
- Walking In The Park
- Those About To Die (nur CD)
- Stormy Monday Blues (nur CD)
DVD wie CD1 und 2, exklusive wie ausgewiesen
Gesamtspielzeit: 64:10 (CD 1), 65:32 (CD 2), 112:39 (DVD), Erscheinungsjahr: 2022
1 Kommentar
Paul Pasternak
17. März 2022 um 22:55 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Ich habe geschrieben, dass 1971 "Lost Angeles" einer meiner Lieblingssongs gewesen ist. Diese Formulierung hat bei einem Hinweisgeber scheinbar für Verwirrung gesorgt, darum möchte ich sie hiermit klarstellen: "Lost Angeles" ist mein Lieblingssong aus jener Zeit, er wurde es erst deutlich später, da ich 1971 eher mit der Blechtrommel um den Weihnachtsbaum herumgelaufen bin als denn Rockmusik zu hören. Ich wollte mitnichten den Eindruck erwecken, noch älter zu sein, als ich ohnehin bin. Ich habe es unzureichend formuliert, die heilige Inquisition möge mir gnädig sein.
Paul