1972, Germersheim, Insel Grün: Da war einiges los und mitnichten alles im Lot. Nachdem ein Jahr zuvor das erste British Rock Meeting in Speyer stattfand, sollte das zweite Festival ein Jahr später in Germersheim über die Bühne gehen. Da die Veranstalter die Anmeldung zu spät abgaben, wollte die Stadt Germersheim das Open Air-Festival verbieten. Aber der Kartenverkauf lief bereits und in Anbetracht der Tatsache, dass viele Zehntausende, darunter jede Menge GIs, in den Startlöchern standen, entschied man sich die Veranstaltung doch besser zu genehmigen. Man entschied sich für das kleinere Übel …
Allerdings ging wohl einiges drunter und drüber, wenn man sich diesen Artikel auf Wikipedia durchliest. Vielleicht gibt es unter unseren Lesern ja Zeitzeugen, die in dieser auch politisch brisanten Zeit am Rhein zugegen waren. Auf festival.com kann der interessierte Leser übrigens das Billing finden. Unvorstellbar: Das alles für 22 Mark!
Das sehr ausführliche Booklet bzw. dessen Liner Notes von Christoph Wagner und Paul McGowan beschreiben sehr informativ das damalige Geschehen und die Einleitung des Gitarristen und Tastenmannes Francis Monkman geht besonders auf die durchaus brisanten Zeiten ein, indem er von plötzlichen Kontrollen bewaffneter Polizisten bei der Anreise eingeht. Es war die Zeit der RAF: » … when we were suddenly sideshifted off the Autobahn by armed police in unmarked cars – no doubt the sight of six hairies in a foreign car was enough for us to be suspected of being members of the RAF (or Red Army Fraction) …«
Aber auch die Show begann anders als geplant. Eigentlich sollte mit "Everdance" vom zweiten Album aus dem Jahr 1971 begonnen werden, aber die Gitarre funktionierte nicht, was Sonja ein »what shall we do?« entfleuchen ließ und die Band daraufhin einfach losjammte: Der "No-Guitar Blues" war geboren.
Überhaupt, und daher heißt diese Serie auch "Rarities", ist dieses musikalische Zeitdokument ein besonderes, denn es beinhaltet die einzigen bekannten Aufnahmen, die die Band in absoluter Improvisation zeigt. Ganz besonders trifft das auf den über dreißigminütigen "The Germersheim Jam" zu, der thematisch das Stück "Vivaldi" vom 1970er Debüt Air Conditioning als Basis hat. Selbstverständlich darf Darryl Way die Geige bis zum Letzten ausreizen, aber den Jam absolvieren alle Fünf mit großer Hingabe.
Erstaunlicherweise ist der Sound von "Rarities Series Volume 3 – The Second British Rock Meeting 1972" mehr als anständig für eine Liveaufnahme aus dieser Zeit. Hinzu kommt, dass hier wirklich stark improvisierend musiziert wurde und dabei sicher auch das eine oder andere Mal der Faden wieder gesucht werden musste. Auf der anderen Seite kommen die druckvollen Drums sowie die flirrenden Basssaiten stets gut zur Geltung, was die eingefangenen Fangeräusche bestätigen – immerhin fand der Auftritt morgens statt. Der Synthesizer wird natürlich ebenfalls strapaziert, manchmal für meinen persönlichen Geschmack auch etwas über Gebühr.
Da das Album "Phantasmagoria" aktuell war, durfte der Titeltrack in der Setlist natürlich nicht fehlen. Sonja in Bestform wie auch in einem meiner Lieblingssongs der Band: "Melinda (More Or Less)". Kristallklar haucht Sonja den Text in diesen Dienstagmorgen und präsentiert die folkige Seite von Curved Air.
Ja, diese Platte ist ein starkes Zeitdokument. Dazu tragen auch die Bilder im Booklet bei, die unter anderem beweisen, dass die damalige Frisurmode junger Männer tausendmal schöner war, als das heutzutage der Fall ist. Aber ihr kennt ja alle den einen Dylan-Song …
Line-up Curved Air:
Sonja Kristina (lead vocals, acoustic guitar)
Darryl Way (violin)
Francis Monkman (guitar, synthesizer)
Florian Pilkington-Miksa (drums)
Mike Wedgwood (bass)
Tracklist "Rarities Series Volume 3 – The Second British Rock Meeting 1972":
- No-Guitar Blues (3:33)
- Everdance / Cheetah / Vivaldi (7:40)
- Phantasmagoria (3:34)
- Melinda [More Or Less] (3:11)
- Over And Above (11:32)
- The Germersheim Jam / Vivaldi [Reprise] (31:47)
Gesamtspielzeit: 61:21, Erscheinungsjahr: 2018 (1972)
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