Explosionen, Arschbomben und ein verbesserungswürdiger Radar
Um die Mitte der 1960er Jahre herum explodierte es. Nein, glücklicherweise keine Bomben, die noch gut 20 Jahre zuvor im Vereinigten Königreich gewütet hatten, die IRA (Irish Republican Army) sollte sich erst noch gründen und die Beatle-Mania ebbte langsam ab. Aber in den Clubs und Pubs von London vermischte sich Rhythm ’n' Blues, Blues, Rock ’n' Roll, Jazz und Soul zu einem explosiven Gebräu, welches den Schweiß an den Wänden herunterlaufen ließ und die Pilzköpfe in die noch jungfräuliche Studio-Tüftelei trieb, wenn auch die einschlägigen Lexika behaupten, dies wäre durch den weiblichen Kreischpegel bedingt gewesen. Schnell pulten sich aus diversen Krach-Combos etliche Saitenhelden in die Spots der Scheinwerfer und revolutionierten die Popularmusik, welche sich fortan neben dem Terminus 'Pop' auch noch den Terminus 'Rock' gefallen lassen musste. So zieren dann bis zum heutigen Tage so Namen wie Jimi Hendrix (begann seine Karriere im Londoner Live-Circuit), Jimmy Page, Jeff Beck, Eric Clapton, Peter Green, Keith Richards, Pete Townshend, Ritchie Blackmore oder Alvin Lee diverse Bestenlisten von Rockmusik-affinen Publikationen, bevor dann Dunkelmänner wie Tony Iommi den Schwermetall in den zuvor blueslastigen Rock kippten und selbstredend ebenfalls in den Listen Einzug hielten.
Doch bleiben wir beim Blues, der plötzlich im Vereinigten Königreich der Mitsechziger zum heißen Scheiß geworden war. Dieser fiel natürlich nicht vom Himmel, sondern war in der amerikanischen Prä-Rock’n’Roll-Ära von Leuten wie Robert Johnson, Blind Willie McTell, T-Bone Walker, Willie Dixon, Elmore James, Sonny Boy Williamson, Muddy Waters, Howlin' Wolf, John Lee Hooker oder B.B. King popularisiert worden … allerdings nur für die schwarze Bevölkerung. Als nun im UK die Post abging, ließen es sich die weißen Katalysatoren nicht nehmen, etliche dieser altehrwürdigen Vorbilder live auf der Bühne zu protegieren, womit sich selbige ein ganz neues Publikum erschließen konnten und somit gar ein Beitrag zum Antirassismus geleistet wurde. Stellvertretend sei an dieser Stelle auf das Album "Sonny Boy Williamson & The Yardbirds" verwiesen, welches Ende 1963 im Crawdaddy Club in Richmond, Surrey aufgenommen, allerdings erst Anfang 1966 veröffentlicht wurde, als die Yardbirds kommerziell eine große Nummer waren. Es präsentiert u.a. den noch blutjungen Eric Clapton als Bewunderer und auf der Suche nach sich selbst.
Zwei, drei Jahre später befand sich der britische Blues-Boom auf seinem Höhepunkt, Clapton hatte mit eher progressiven Tönen bei Cream bereits Geschichte geschrieben, während die John Dummer Blues Band vergleichsweise traditionell jeweils bei Howlin' Wolf und John Lee Hooker als Backing-Band agierte.
Dabei vorzugsweise an der Slide-Gitarre: Dave Kelly
Dave Kelly wird gerne als Schüler von Mississippi Fred McDowell bezeichnet, wurde aber in seinen 'Lehrjahren' von Tony McPhee protegiert, welcher auf dem 1969er Debütalbum "Cabal" der John Dummer Blues Band ebenfalls mitwirkte.
Dave Kelly war als Vokalist zusammen mit seiner älteren Schwester Jo-Ann Kelly, mit welcher er in ganz jungen Jahren in die Welt des Folk-Blues eintauchte, auch bei der Gruppe Tramp aktiv, wo sich unter anderem die Fleetwood Macs Mick Fleetwood und Danny Kirwan rumtrieben, veröffentlichte zwei Alben unter seinem Namen und verschwand Mitte der 1970er von der Bildfläche, um am Ende des Jahrzehnts mit einem weiteren Soloalbum wieder aufzutauchen, welches schlussendlich zur Gründung der sehr schlicht betitelten The Blues Band führte, ein zu damaliger Zeit wagemutiger Anachronismus, galten doch alleine schon die Protagonisten als 'Boring Old Farts'.
Aber der zum Pub-Rock tendierende Blues der Combo traf durchaus den Zeitgeist und bescherte den inspiriert wie motiviert musizierenden Routiniers Achtungserfolge … und das so nachhaltig, dass dieses Kollektiv mit einer einzigen Umbesetzung bis zum heutigen Tage Bestand hat.
Dave Kelly verfolgte allerdings unter eigenem Namen und mit der Dave Kelly Band auch noch außerhalb der Blues Band Ambitionen, welche nunmehr 'Repertoire Records' mit der vorliegenden 3-CD-Kompilation "40 Years On – A Recollection" würdigt.
Diese beginnt mit einer Single-B-Seite von 1980 und schließt mit zwei bisher nicht veröffentlichten Live-Aufnahmen der British Blues All Stars von 2015.
Insgesamt sind 23 der 55 Tracks bisher unveröffentlicht, darunter die komplette dritte CD, die sich "Alive And Kicking" schimpft und selbstredend vollständig Live-Aufnahmen beinhaltet. Auch die beiden anderen CDs sind thematisch zusammengestellt und betitelt: "All My Own Work" (CD 1) und "Between The Covers" (CD 2).
Allerdings liegt in dieser thematischen Übersichtlichkeit die ganz große Schwäche der hier zu rezensierenden Veröffentlichung!
Es gibt nämlich keine zeitliche Chronologie, alles ist wild und ohne erkennbaren roten Faden zusammengewürfelt, abgesehen vom jeweiligen Oberthema. Dadurch beraubt sich diese Tonträger-Veröffentlichung der größten Stärke gegenüber dem Streaming … eine Konsistenz, Nachvollziehbarkeit und substanzielle Auseinandersetzung bei der Zusammenstellung und beim Hören eines Albums. Leider wird hier stattdessen nur der oberflächliche Shuffle-Modus bedient, so dass sich weder musikalisch, noch klanglich eine gewisse Stringenz einstellen kann. Diesen Umstand kann unglücklicherweise das 40-seitige Hochglanz-Begleit-Booklet trotz Detailangaben in chronologischer Reihenfolge nicht beheben. Beispielsweise fällt dort der "Duisburg Blues" komplett unter den Tisch und das von seinem Blues Band-Mitstreiter Gary Fletcher stammende "That’s Why" wird weder zeitlich noch inhaltlich (woher stammend) eingeordnet. Die insgesamt als Höhepunkt dieser Veröffentlichung einzustufenden Tracks vom 'Montreux Jazz Festival' (Juni 1983), allesamt bisher unveröffentlicht, verteilen sich vollkommen willkürlich auf alle drei CDs, so dass ein reiner Fokus auf diese Aufnahmen unmöglich ist. Demgegenüber finden wir Auszüge von Dave Kellys viertem Soloalbum "Feels Right", passenderweise von 1981 und damit nach der Single-B-Seite "Ungrateful" (die A-Seite fehlt) der titelgebende Startpunkt dieser Zusammenstellung, auf CD 1 mit den Tracks 2 und 4 und auf CD 2 mit den Tracks 1, 8, 16 und 18. Das macht alles aus Sicht des Rezensenten wenig Sinn!
War sonst noch was?
Ach ja, was hat eigentlich der Triple-Whopper musikalisch zu bieten? Grundsätzlich fischt Dave Kelly solo oder im Verbund der Dave Kelly Band stilistisch in den gleichen Gewässern wie seine angestammte Combo, was allein schon deren nicht seltene personelle Mitwirkung unterstreicht. Eigentlich fehlt grundsätzlich nur Paul Jones.
Aber auch Dave Kelly kann mit dem Gesangsmikro sehr angenehm umgehen, zusätzlich glänzt als große Klammer sein hervorragendes Slide-Spiel. Neben Blues, Rhythm ’n' Blues, Rock ’n' Roll, Country-Rock, Folk-Rock und Pub-Rock lässt er punktuell auch Reggae- und Popfarbtupfer mit einfließen. Nicht selten lugt ein gewisser Mark Knopfler verschmitzt lächelnd um die Ecke. Und eine latente Boogie-Affinität ist nicht zu leugnen.
Bei der CD mit den Coverversionen lässt die krude erscheinende Auswahl und ihre überraschend variantenreiche wie pfiffige Umsetzung aufhorchen.
"Return To Sender" als schmissiger Boogie-Rock’n’Roll, "(Sittin' On) The Dock Of The Bay" als Perkussions-Schleicher, während "110 In The Shade" sich gar nicht von John Fogerty stammend entpuppt und hier sehr Ry Cooder-mäßig umgesetzt wird und "Crying In The Rain" mitnichten im Original von AHA anno 1990 stammt, sondern 1962 ein Hit für die Everly Brothers war und von der Dave Kelly Band auf dem 1987er Album "Heart Of The City" zu einem Reggae umarrangiert wurde.
Fazit: 'Repertoire Records' legt mit "40 Years On – A Recollection" eine längst fällige Würdigung eines Musikers vor, der vom Star- und Aufmerksamkeitsstatus her bis heute sträflich unter dem Radar fliegt, obwohl er doch nicht nur an den Explosions-Wehen des British Blues-Booms der 1960er Jahre aktiv beteiligt war, sondern auch dafür sorgte, dass entsprechende Nachwehen bis zum heutigen Tage spür- und hörbar sind. Alleine der Live-Jam von "Grits Ain’t Groceries" vom 'Montreux Jazz Festival' 1983, einer leidlich aufregenden Nummer vom 1982er Blues Band-Album "Brand Loyalty", ist hier das Eintrittsgeld wert. Die konzeptionelle Umsetzung dieser Werkschau gleicht aber leider einer Arschbombe!
Line-up Dave Kelly:
Dave Kelly (lead vocals, guitars, slide guitars, dobro)
Rob Townsend (drums)
Roy Morgan (drums)
Sam Kelly (drums)
Pick Withers (drums)
Gary Fletcher (bass)
Tex Comer (bass)
Marcus Cliffe (bass, string bass)
Andy Herbert (bass)
Andy Brown (bass)
Lou Stonebridge (keyboards, backing vocals & accordion)
Peter Filleul (keyboards & background vocals)
Zoot Money (keyboards)
Geraint Watkins (piano)
Chuck Leavell (piano)
Steve Gurl (synthesizer)
Tom McGuinness (guitar & backing vocal)
Steve Donnelly (lead guitar)
John Maskell (lead guitar)
Ed Deane (lead guitar)
Pete Emery ( lead guitar)
Rod Smarr (lead guitar)
Liz Kitchen (spoons, washboard, percussion & vibraphone)
Steve Simpson (violin)
Christine Collister (vocals & acoustic guitar)
… and others
Tracklist "40 Years On – A Recollection"
CD 1 "All My Own Work":
- Straight Line [To My Heart] (3:23)
- Dawn Surprise (3:04)
- Ungrateful (3:19)
- Don’tcha Hang Up The Phone (2:52)
- Velocity And Love (5:21)
- Life After Love (6:23)
- Duisburg Blues (4:06)
- Worried Man (3:43)
- Time After Time (3:31)
- Waiting For Bessie* (5:02)
- Give Me My Money (3:41)
- Come Kiss Me Love* (3:04)
- Mr Estes Said* (4:16)
- When The Blues Come To Call* (4:25)
- Going Home* (3:53)
- If It Fits (2:41)
- Watching The Fire (4:41)
- Love Is A Compromise (4:18)
- Glad I’m Living (3:38)
CD 2 "Between The Covers":
- Return To Sender (2:54)
- Foreign Station (3:49)
- The Night They Drove Old Dixie Down* (4:10)
- That’s Why (3:56)
- Tongue Tied (4:28)
- Jim Canaan (2:31)
- (Sittin' On) The Dock Of The Bay (5:22)
- I’m Into Something Good (3:13)
- Rooster Blues (4:15)
- 110 In The Shade (4:28)
- Pancho And Lefty (4:14)
- Two More Bottles Of Wine* (3:33)
- Oklahoma (2:08)
- Anyhow, I Love You* (3:49)
- Ee Do Do Qua Qua (3:38)
- You’re Gonna Make Me Lonesome (3:05)
- World In Motion (4:33)
- Red Red Wine (2:08)
- Crying In The Rain (3:24)
- City Of New Orleans (4:40)
- She’s Funny That Way (3:52)
CD 3 "Alive And Kicking":
- Rolling Log* (3:52)
- That Same Thing* (6:42)
- I Can’t Be Satisfied/Chicago Calling* (4:54)
- Hoochie Coochie Man* (5:49)
- Lovey Dovey* (4:01)
- Too Bad To Be True* (4:51)
- My Old Friend The Blues* (4:06)
- Foolish Pride* (2:53)
- You Shook Me* (6:10)
- Barnyard Boogie* (2:41)
- Walking Blues* (4:37)
- Dust My Blues* (5:21)
- Lights Out* (5:07)
- Blind Man* (5:00)
- Grits Ain’t Groceries* (9:42)
*Previously unreleased
Gesamtspielzeit: 75:19 (CD1), 78:07 (CD2), 76:33 (CD3), Erscheinungsjahr: 2021
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