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David Bowie / Heathen – LP-Review

David Bowie - Heathen - LP-Review

Auf dem Glastonbury Festival 2000 spielte David Bowie zum ersten Mal nach langer Zeit seine alten Hits und hatte daran plötzlich wieder soviel Spaß, dass er sich direkt an ein neues Album machte. Dafür wollte er einige seiner Songs aus den Sechzigern aufpolieren und noch einmal, kombiniert mit ein paar brandneuen Tracks, auf den Markt bringen. Bowies Plattenlabel vertröstete ihn nach Abgabe des fertigen Albums "Toy" zunächst auf einen späteren Termin. Als dieser jedoch abgelaufen war und auch noch zwei weitere Monate ohne Veröffentlichung verstrichen, hatte der Engländer die Schnauze voll und löste die Verträge mit der EMI stinksauer auf. "Toy" ist zwar bis heute noch nicht erschienen, aber einige der Songs wurden bereits als Single-B-Seiten verwendet und 2011 kursierte das Album scheinbar auch schon mal im weltweiten Netz. Bowie kontaktierte als engsten Mitarbeiter seinen ehemaligen Weggefährten Tony Visconti, mit dem er sich mehr als zwanzig Jahre davor bei den Aufnahmen und der Produktion von "Scary Monsters" (1980) zerstritten hatte. Es kam zur Versöhnung und mit ca. vierzig Songs bewaffnet ging es zunächst in ein Studio in New York City, wo es aber einfach nicht richtig lief. Also zogen die Musiker weiter, dieses Mal in ein Studio in den wunderschönen Catskill Mountains (ebenfalls im Bundesstaat New York gelegen). Und hier fühlte sich Bowie plötzlich so inspiriert, dass er einen wahren Kreativschub erlebte und ihm neue Songs nur so aus den Fingern flossen.

Das Ergebnis des Ganzen war das Album "Heathen", das schließlich 2002 veröffentlicht wurde. Leicht gemacht hat er es seinen alten und neuen Fans damit nicht unbedingt, denn die zwölf Songs umringt fast durchgehend eine eher schwermütige Atmosphäre, während sich der gute David hier mit den großen Fragen des Lebens (Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Und warum überhaupt?) beschäftigte. Kein einziger der Songs geht unmittelbar ins Ohr, geschweige denn, dass er sich dort festsetzen würde. Die Platte zieht ihre Stärke vielmehr aus ihrer Nachhaltigkeit, was natürlich nur dann funktionieren kann, wenn der Hörer sich intensiver mit ihr beschäftigt.

Düster und geheimnisvoll startet "Secrets", während der Protagonist uns mit belegter Stimme und den ersten Worten »Nichts bleibt für immer…« empfängt. Die Drums sind programmiert, die Gitarre sparsam und für die dichte Aura sorgt ein unheilschwanger vor sich hin waberndes Keyboard, bis der Song – fast schon am Ende angekommen – doch nochmal anzieht und sich der Horizont schlagartig wieder erhellt. Ungleich rockiger, wenn auch von der Stimmung nicht unbedingt positiver, legt "Cactus" nach. Mit echten Drums eingespielt, kommt diese Nummer deutlich geradliniger auf den Punkt. Mein Favorit ist die hervorragende Ballade "Slip Away", in der Bowie noch einmal seine ganze Klasse ausspielt. Ein Piano unterlegt den wahnsinnig emotionalen Gesang, der tief aus dem Herzen zu kommen scheint. Was auch gar nicht mal so abwegig ist, hatte David noch vor nicht allzu langer Zeit den Tod seiner Mutter sowie (kurz danach) den eines sehr guten Freundes zu verkraften.

Nach dem straight nach vorne gehenden "Slow Burn" (mit dem Gast Pete Townshend an der Gitarre), horcht Bowie bei "Afraid" noch einmal ganz tief in sich hinein. Davon ausgehend, dass Liebe und Angst die zwei Hauptfaktoren sind, die das Leben eines Menschen (bewusst sowie unbewusst) bestimmen, ist der Protagonist es leid, immer wieder ein Opfer seiner Unsicherheit und Angst zu sein. Absoluter Hammer-Song! Ohne jetzt auf die weiteren Tracks einzugehen, versteht sich bei einem Kaliber wie David Bowie fast schon von selbst, dass dann auch die zweite Seite dieses herrlich warm und voll klingenden 180g-Vinyls qualitativ keinen Millimeter nachlässt.

Wie bereits erwähnt, muss man sich "Heathen" erst erarbeiten und sich ziemlich intensiv rein hören. Betreibt man diesen 'Aufwand', wird man letzten Endes jedoch reich belohnt. Das Album hat sowohl musikalisch als auch textlich eine unwahrscheinliche Tiefe, in die es zugegebenermaßen nicht jeden Tag einfach ist, hinab zu steigen. Als Einsteigerplatte in das Lebenswerk David Bowies mag "Heathen" zwar nicht unbedingt geeignet sein, aber wer den Mann bereits kennt und mag, wird diese Scheibe sehr bald lieben.


Line-up David Bowie:

David Bowie (keyboards, guitars, saxophones, stylophone, drums, lead & background vocals)
Tony Visconti (bass, guitars, recorders, string arrangements, background vocals)
Matt Chamberlain (drums & percussion, loop programming)
David Torn (guitars, guitar loops, omnichord)
The Scorchio Quartet (strings)

With:
Pete Townshend (guitar – #A-4)
Dave Grohl (guitar – #A-6)
Carlos Alomar (guitars)
Sterling Campbell (drums & percussion)
Lisa Germano (violin)
Gerry Leonard (guitars)
Tony Levin (bass)
Mark Plati (guitar, bass)
Jordan Ruddess (keyboards)
The Borneo Horns (horns)

Tracklist "Heathen":

Side 1:

  1. Sunday
  2. Cactus
  3. Slip Away
  4. Slow Burn
  5. Afraid
  6. I’ve Been Waiting For You

Side 2:

  1. I Would Be Your Slave
  2. I Took A Trip On A Gemini Spaceship
  3. 5:15 The Angels Have Gone
  4. Everyone Says 'Hi'
  5. A Better Future
  6. Heathen (The Rays)

Gesamtspielzeit: 25:03 (Side 1), 26:54 (Side 2), Erscheinungsjahr: 2017 (2002)

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
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Meine Konzerberichte im Team mit Sabine
Mail: markus(at)rocktimes.de

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