Auch in der Karriere einer gestandenen Band im Alter von stattlichen 53 Jahren kann es durchaus noch Premieren geben. Das neue Album von Deep Purple mit dem Titel "Turning To Crime" ist ein solcher Beleg. Es ist ein Coveralbum und 15 Monate nach Whoosh! erschienen. Coveralbum – das mag, oberflächlich betrachtet, vielleicht nicht sonderlich spannend klingen. Allerdings hört sich das Werk mit zwölf Nummern gut an. Schon beim ersten Durchlauf zündet die CD. Jede Wiederholung wird mit einem weiteren abwechslungsreichen Hörvergnügen belohnt. Das sollte natürlich jeder Hörer für sich selbst entscheiden.
"Turning To Crime" mutet an wie eine erneute Frischzellenkur. Hat man die vergangenen drei Alben vor Augen bzw. besser vor Ohren, dann wissen wohl die meisten der eingefleischten Fans, dass die gereiften Herren immer wieder für Überraschungen gut sind, obwohl sie sich eigentlich nichts mehr beweisen müssen. Der Reigen beginnt aktuell mit der ersten Singleauskopplung "7 And 7 Is" von Love. Aus diesem Lied mit Entstehungsjahr 1966 ist ein kurzes Stück im typischen Gewand von Deep Purple geworden. Dass die verdienten Hardrocker um Sänger Ian Gillan genauso gut mit Boogie Woogie umgehen können, beweisen sie beim folgenden "Rockin' Pneumonia And The Boogie Woogie Flu". Huey "Piano" Smith schenkte es der Musikwelt 1965. Die Neuinterpretation erfolgt mit Hingabe und aus vollem Herzen heraus. Der Produktionszeitraum reicht in beiden Fällen über das Gründungsjahr von Deep Purple (1968) hinaus. Es handelt sich damit um echte Vorbilder aus einer frühen Zeit.
Das dritte Stück gehört für mich zu den Höhepunkten der vorliegenden Platte. "Oh Well" (1969) stammt aus der Feder von Peter Green. Er war von 1967 bis 1970 Mitglied der 1967 ursprünglich als Bluesband gegründeten britischen Formation Fleetwood Mac. Es ist eine Hommage an den vor einem Jahr verstorbenen Musiker. Zeitgemäß und lebendiger als das doch ein wenig angestaubte Original, aber auch nicht überfrachtet, kommt "Oh Well" in einer etwas verlängerten Spieldauer daher.
Auch bei "Jenny Take A Ride!" zeigen die Musiker, allen voran Frontmann Ian Gillan, dass sie beim Covern ihren Spaß haben. Welcher Titel hier in Angriff genommen wurde – er wird in Anlehnung an das jeweilige Original zur Marke Deep Purple. Es ist ein würdiges Studioalbum mit einer für die Band völlig neuen Herangehensweise. Einerseits zeigen die gestandenen Musiker ihre Vielseitigkeit. Zum anderen dokumentiert das Werk genauso wie die jüngsten Soloprojekte der beteiligten Protagonisten (Ian Gillan, Don Airey), dass ihnen die Freude am Musizieren nicht verlorengegangen ist.
In bester Big Band-Art erklingt "Let The Good Times Roll" von Ray Charles & Quincy Jones. Deep Purple meistern es mit Bravour, wobei Don Arirey und Ian Gillan hier zu besonderer Klasse auflaufen. Es ist eine Komposition, die sicherlich nicht typisch für die Hardrocker ist, deren Umsetzung aber eindrucksvoll zeigt, zu welcher Leistung sie beim Spielen fremder Vorlagen in der Lage sind. Wir hören durchweg interessante Interpretationen, die alles andere als Langeweile aufkommen lassen. Die ursprünglichen Kompositionen lassen den Hörer in verschiedene Klangwelten eindringen. Im Durchschnitt sind die Stücke bis auf den finalen Song zwischen drei und viereinhalb Minuten lang. Produzent und Freund Bob Ezrin hat mit der Band bereits an den vorherigen Alben der "Trilogie" gebastelt, welche die Platten "NOW What?!", inFinite und "Whoosh!" (2013, 2017 und 2020) umfasst. Auch dieses Mal war er wichtiger Bestandteil der Studioarbeit.
Solide interpretiert ist "Dixie Chicken" von Little Feat. Es ist eines der Stücke mit verstärktem Klaviereinsatz. Mit "Shapes Of Things" von den Yardbirds kehren wir unüberhörbar zu puren Deep Purple-Klängen zurück. Allein Gitarrist Steve Morse und der in der Form seines Lebens agierende Tastenmann Don Airey zeigen hier, wo wir uns bewegen. Bei der flotten Folknummer "The Battle Of New Orleans" von Lonnie Donegan und Johnny Horton erleben wir eine feine Überraschung: Roger Clover beweist, dass er nicht nur überzeugend Bass spielen und als Produzent arbeiten kann. Nein, er hat auch das Zeug, mit dazu passendem Gesang für beste Laune zu sorgen. Was für eine komfortable Situation für die Briten: Deep Purple lösen auch diese Herausforderung und müssen nicht einmal nach einem fremden Gastmusiker Ausschau halten!
Das druckvolle "Lucifer"aus dem Hause Bob Seger setzt ein weiteres Achtungszeichen und leitet mit dem typischen Klangbild der Band ein furioses Finale ein. Bei "White Room" von Cream brechen gewissermaßen alle Dämme! Eric Clapton, Jack Bruce und Ginger Baker haben das Lied 1968 uraufgeführt. Unzählige Male wurde es inzwischen gecovert. Deep Purple scheint es auf den Leib geschrieben worden zu sein. Sie zelebrieren diesen 53 alten, aber ewig jugendlichen Klassiker der ersten »Supergroup in der Geschichte der Rockmusik«, Cream.
Zum Abschluss hören wir ein Medley mit dem Namen "Caught In The Act", bestehend aus Material von Freddie King, Booker T. and the M.G.’s, The Allman Brothers Band, Led Zeppelin und The Spencer Davis Group. Die Zusammenstellung hat schon etwas von Progressive Rock, wofür allein die Spieldauer von 7:49 Minuten spricht. "Turning To Crime" bedarf keiner großen Worte. Das Coveralbum darf man getrost als gelungene Bonusbeigabe einer einzigartigen Karriere sehen. Seit 2017 und damit mit dem Album "inFinite" befinden sich die fünf Akteure laut eigener Aussage auf "The Long Goodbye Tour". Ein (End-)Datum ist jedoch bis heute nicht fixiert.
Line-up Deep Purple:
Ian Gillan (vocals)
Steve Morse (guitar)
Roger Glover (bass, vocals – #9)
Don Airey (keyboards)
Ian Paice (drums)
Tracklist "Turning to Crime":
- 7 And 7 Is
- Rockin' Pneumonia And The Boogie Woogie Flu
- Oh Well
- Jenny Take A Ride!
- Watching The River Flow
- Let The Good Times Roll
- Dixie Chicken
- Shapes Of Things
- The Battle Of New Orleans
- Lucifer
- White Room
- Caught In The Act (Medley)
Gesamtspielzeit: 49:59, Erscheinungsjahr: 2021
3 Kommentare
Hans-Jürgen
8. März 2022 um 18:56 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Die Scheibe ist einfach Klasse und zeigt wieder mal die Qualität der Musiker.
Die brauchen sich nicht zu verstecken und zeigen auch in ganz anderen musikalischen Gefilden, wo der Hammer hängt !
Mario Keim
8. März 2022 um 19:41 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Hans-Jürgen,
ich teile Deine Auffassung in vollem Umfang. In wenigen Worten bringst Du es auf den Punkt und sprichst mir aus dem Herzen. Was wurde in der Vergangenheit nicht alles schon über Deep Purple gesagt und geschrieben? Selbst von eingeschworenen Fans… Mit den drei Alben „NOW What?!“ (2013), „inFinite“ (2017) und „Whoosh!“ (2020), die alle unter dem gemeinsamen Titel "Time Trilogy" mit Deep Purple-Freund und Produzent Bob Ezrin veröffentlicht wurden, sind sie zurückgekehrt und offenbaren handwerkliche Fähigkeiten und vor allem eine enorme Spielfreude, bei der kein Auge trocken bleibt. Man sollte ergänzen: Von Musikern mit einem Altersdurchschnitt von aktuell 73 Jahren darf man das nicht automatisch erwarten! Nach meiner Einschätzung haben die Soloprojekte der DP-Musiker ebenfalls spürbar zu einer Frischzellenkur beigetragen. Und wer will einer solchen Formation das Recht absprechen, auch einmal covern zu dürfen?
LG Mario
Achim M aka Xanadu
18. November 2021 um 12:12 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Danke Mario für diesen sehr überschaubaren und gut geschriebenen Beitrag über "Turning to Crime" mit den dazugehörigen Infos, ist es eine runde Sache und jetzt freu ich mich richtig , nach anfänglicher Skepsis, diese Scheibe zu hören. VG Achim