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Delusion Squared / Anthropocene – CD-Review

'Der Frontmann ist weg – es lebe die Band!'

So oder so ähnlich haben es in in der Geschichte des Progressive Rocks schon einige Bands gehandhabt – prominente Beispiele: Genesis ohne Peter Gabriel, Spock’s Beard ohne Neal Morse … auch da war die Stimme weg und man hat den Verlust quasi bandintern kompensiert.

Im Fall der 2009 gegründeten Franzosen von Delusion Squared machen wir aus dem Frontmann eine Frontfrau; und der Rezensent fragt sich – wie seinerzeit auch bei besagten (eher prominenteren) Bands sicherlich viele sich gefragt haben: Kann das nochmal was werden? Und die Frage stellte sich schon quasi präventiv bei der Besprechung des Albums "II":

Die Stimme Lorraine Youngs ist die Seele von Delusion Squared. Auf sie ist alles zurechtgeschnitten. Oder ist es ganz anders und sie drückt einfach nur in ihrer besonderen Art jedem Stück ihren Stempel auf? Diese zarte, fast liebliche, klare Frauenstimme zieht den Hörer unweigerlich in ihren Bann.

Auweia. Denn es kam nun wirklich so: Nach drei hervorragenden Alben machen die beiden Herren ohne ihre Frontfrau weiter; Gitarrist Steven Francis hat den Gesangspart übernommen. Nun war Lorraine Young allerdings abseits des Gesangs – anders als die angesprochenen Beispiele – nicht anderweitig mit der Musik der Band verbandelt. Außerdem hatte man die Chance eines logischen Cuts, denn die bisherigen drei Alben mit weiblichem Gesang waren eine zusammenhängende Geschichte. In deren dystopischem Szenario rund um den postapokalyptischen Wiederaufbau einer Zivilisation stand eine junge Frau im Mittelpunkt, verkörpert und besungen durch Lorraine Young. Nun haben die 'übrigen' Delusion Squared erneut ein Konzeptwerk verfasst, dessen Gedankenspektrum gar nicht so weit davon entfernt scheint: Wohin wird sich die Menscheit am Scheideweg zwischen Selbstausrottung und Rettung entwickeln? Jeder Song zeigt ein mögliches Szenario auf. Mal geht es um eine unterirdische Flucht vor einem oberirdischen Klima-Kollaps, mal um eine Zukunft, in der sich die Reichen hinter Schutzmauern verbarrikadieren, mal um die völlige Auslöschung der menschlichen Spezies …

… alles hochinteressant und irgendwie beunruhigend plausibel – und facettenreich dargestellt durch die musikalischen Stimmungen. Das passt alles ganz wunderbar zu dem, was die Band auf den ersten drei Alben ausgemacht hat und nach wie vor so hörenswert macht. "Original Sins" beschreibt, wie Maschinenwesen die Herrschaft über die Erde übernehmen, und dies mit einem betörenden Mix aus düsteren Riffs und schweren Synthesizern, mittendrin ein hypnotisch bremsender, atmosphärischer Chorus. Ganz ähnlich verströmt auch "Necessary Evil" mit seinen verstörend langsamen Abwärtsbewegungen der Gitarrenmelodie und Keyboardunterstützung eine beklemmende Stimmung bei stoisch mitreißendem Drive. Beide könnten so etwas wie 'kleine Brüder' von Rushs "Red Sector A" sein. Doch bei aller Dramatik wirken Delusion Squared stets faszinierend … nennen wir es: 'un-überfrachtet'. Es werden keine akustischen Zwischenräume mit Streichern ausgefüllt; und keine noch so düstere elektrische Gitarre wirkt wirklich heavy. Die Musik der Gruppe hat immer etwas Träumerisches … sei es nun trostlos und beklemmend, oder idyllisch-balladenhaft wie in "Promised Land", wo die letzten Überlebenden auf Mehrgenerationen-Raumschiffen von einer neuen Heimat fernab unseres Sonnensystems träumen.

Und auch ein weiteres geliebtes und gelerntes Trademark der Band trifft auch das Album "Anthropocene" mitten ins Schwarze: der Wandel auf einem magischen Grat, wo die Stimmungen verwischen. "An Ominous Way Down" ist dafür ein tolles Beispiel – und einer der Anspieltipps des Albums. Detailverliebte Akustikgitarren machen den Anfang; und auch mit dem später einsetzenden Mid-Tempo-Drive – kein bpm schneller als unbedingt nötig und beinahe beschwipst langsam – bleibt der Song zerbrechlich, aber dennoch intensiv. Und die Gesangsmelodie – empfehlenswert außergewöhnlich in ihren Bewegungen und Betonungen – schwebt zwischen malerisch und melancholisch. Apropos Gesang – da war doch was … Steven Francis macht das genau im Stile Lorraine Youngs: ruhig und unaufgeregt, als Gegenaussage zum heftigen Inhalt der Lyrics. Die hohen Backing Vocals – besonders eindrucksvoll bei "Heirs Of Time" – runden den Typisch-Delusion-Squared-Eindruck ab. Überraschung: Ausgerechnet das Festhalten an allem Bewährten macht auch Album Nummer vier entgegen aller Befürchtungen absolut großartig. Und – nochmal Überraschung – dass plötzlich ein Mann statt einer Frau singt, macht das Ganze nochmal interessant 'anders'.

 


Line-up Delusion Squared:

Steven Francis (guitars, vocals, drums, additional programming)
Emmanuel de Saint Méen (bass, keyboards, backing vocals)

Tracklist "Anthropocene":

  1. Devolution (7:15)
  2. An Ominous Way Down (7:24)
  3. Necessary Evil (5:25)
  4. Walls And Protection (4:31)
  5. To This Day (5:56)
  6. Under Control (5:16)
  7. Heirs Of Time (5:31)
  8. The Promised Land (6:21)
  9. Original Sin (5:48)
  10. The Great Leap (5:30)
  11. Prayer (6:19)

Gesamtspielzeit: 65:15, Erscheinungsjahr; 2018

Über den Autor

Boris Theobald

Prog Metal, Melodic Rock, Klingonische Oper
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv

Mail: boris(at)rocktimes.de

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