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Die Anderen / Kannibal Komix – CD-Review

Die Anderen / Kannibal Komix

Die späten sechziger und siebziger Jahre waren eine saucoole Epoche, ich habe während dieser Zeit meine Kindheit und Jugend verbracht – als sie endete, schrieben wir das Jahr 1980 und viele Dinge änderten sich. Ich durfte erstmals wählen gehen. Damals gegen Franz Josef Strauß, der eine ganze Generation mobilisierte, wenn auch nicht für sich selbst. Als Die Anderen allerdings in der deutschen Musikszene auftauchten, war ich gerade mal ein paar Jahre alt und habe sehr viel später erst von ihrer Existenz erfahren. So ist diese Besprechung für mich eine Reise in die Zeit, als ich die Welt noch aus gut einem Meter wahrnehmen musste, als die Einschulung drohte und die erste Rakete zum Mond flog.

Die Musik jener Zeit hat vor allem Lebensfreude vermittelt, darum soll dieser Rückblick Spaß machen. Ich bitte daher, die eine oder andere Formulierung mit einem Augenzwinkern wahrzunehmen – ist alles nicht ganz ernst gemeint.

In den ersten Jahren dieser Epoche wurde ich im Hause meiner Eltern noch von Schlagern verfolgt. Daheim stand die Hitparade im ZDF hoch im Kurs und ich muss mich schmählich rühmen, dass ich viele Heino-Songs immer noch mit Text kenne, wenn auch mit einem traumatischen Beigeschmack. Mein Vater hat sie gesungen, wenn er einen im Tee hatte, also quasi andauernd. Die Texte der damaligen Schlager-Eumel waren vergleichsweise einfältig – was vermutlich heute immer noch zutrifft. Im Grunde handelten die seichten Geschichten fast ausnahmslos von Geschlechtsverkehrsanbahnungen, ohne dies jemals klar und deutlich zu bekennen. Jener Herr Heino sang damals in seinem legendären Alpen-Epos "Der blaue Enzian": »In der ersten Hütte haben wir zusammengesessen. In der zweiten Hütte haben wir zusammen gegessen. In der dritten Hütte hab ich sie geküsst, keiner weiß, was dann geschehen ist.« Ehrlich nicht? Wer es bis dahin noch immer nicht kapiert hatte, wurde in den letzten Jahren in einer unfassbar genialen Comedy-Nummer von Wolfgang Trepper aufgeklärt: »Gebumst hat er sie, der Heino, nachdem er die arme Frau 12 Kilometer die Berge rauf gejagt hat.« Wie geil!

Ein wenig desillusionierend, wenn man das so deutlich ausspricht, oder? Mit Songtiteln wie "Ich pöppel Dich am Matterhorn" wäre in der Schlagerszene kein Geld zu verdienen. Heute bekäme man einen Shitstorm von der Empörungs- und Betroffenheitsfront, damals wären sie kollektiv in Ohnmacht gefallen. Darum war ein Anderer seinerzeit entsprechend romantischer unterwegs, obwohl auch dem im Ergebnis nichts anderes vorschwebte als dem blumenaffinen alpinen Beischlafaspiranten Heino. Ein gewisser Jürgen Drews trällerte wortgewaltig, aber unkonkret und damit politisch korrekt über seine Visionen von Sex im Freien. Das berühmte "Bett im Kornfeld"! Der Song war für Herrn Drews der Dosenöffner seiner Karriere. Die Nostalgiewelle spülte ihn später endgültig an die Spitze hiesiger Schnulzensänger und kulminierte schließlich in der Selbstinszenierung zum 'König von Mallorca'. Dort übrigens, am Ballermann, sind nun endlich auch knallharte Schlagertexte ausdrücklich erwünscht, zumindest dort ist das Zeitalter der subtilen Andeutung längst Geschichte. Also dann doch: »Ich pöppel Dich am Matterhorn, mal von hinten, mal von vorn.« Wird die B-Seite von "Hoppsassa, wir fahren nach Mallorca." Aua!

Aber Jürgen Drews war einst auch ganz anders unterwegs, und damit meine ich nicht die Zeit bei den Les Humphries Singers, die Anfang der Siebziger ausgesprochen erfolgreich ihre Platten verkauften. Als Kind fand ich die übrigens ziemlich gut, sie hatten einen (für die Schlagerszene) ungeheuer mitreißenden, gospelartigen Drive. Sehr cool.  Nein, Jürgen hat auch etwas ganz anderes gemacht: Er war der Sänger und Gitarrist bei Die Anderen. Und das, was er bzw. die gesamte Band dort abgeliefert hat, ist allemal eine Betrachtung wert, denn der Mann kann nicht nur Schlager, sondern richtig geile, sehr zeitgenössische und mitunter psychedelische Beatmusik. Und seine Röhre war massiv und beeindruckend. Erzählst Du das in diesem Wortlaut heute aber am Ballermann, denken die sicher gleich wieder an monströse Genitalien und nicht an eine leidenschaftliche Musikstimme. Die Evolution ist halt nicht immer und überall erfolgreich.

Das hier vorliegende Album, "Kannibal Kozmik", war das Debüt der Band Die Anderen und passt im Nachhinein betrachtet ganz ausgezeichnet in den damaligen Zeitgeist, als die Beatles aus allen Lautsprechern klangen. Deutsche Plattenproduzenten versuchten damals wohl, diesen Trend mit einer einheimischen Kombo aufzunehmen und entsandten Top-Profis wie Ralph Siegel und Georgio Moroder, um das erste Album der Band in London (!) auf Spur zu bringen. Ein 30-köpfiges Orchester wurde der Band für die Aufnahmen an die Seite gestellt, alles sehr aufwändig und ganz sicher nicht billig. Die Qualität der Musik wurde in der Szene hoch eingeschätzt, allein, sie verkaufte sich schlecht. Als für den amerikanischen Markt ein weiteres Album aufgezeichnet werden sollte, entschied man sich dazu, den international schlecht zu promotenden deutschen Bandnamen zu ändern, Apocalypse nannte man sich fortan und so hieß auch das Album. Doch die Plattenfirma ging pleite und die Band zerbrach kurz darauf am ewigen Streit um Kunst und Kommerz. Während nämlich Enrico Lombardi, Gerd Müller (nein, nicht der Bomber der Nation) und vor allem der Bandleader Bernd Scheffler sich bereits in ihrer früheren Formation Chimes Of Freedom einig waren, kommerzieller Musik abzuschwören, orientierte sich Jürgen Drews ausdrücklich gern am Markt und sah in einer Öffnung zu massentauglicher und damit pekuniär vielversprechender Musik keinen künstlerischen Konflikt. Eine ewige Parabel auf das Wesen der Rockmusik und ihre philosophische Ausrichtung.

Wer mehr über diese spannenden Geschichten rund um die damalige Kieler Beatszene wissen möchte, dem sei das Buch "Starpalast und Skinny Minny" von Klaus Härtel empfohlen, auch das umfangreiche und informative Inlet der Platte zitiert aus diesem Werk.

Nun aber endlich zum wichtigsten, der Musik auf "Kannibal Kozmik". Auf der Original-LP erschienen damals zwölf kernig kurze Nummern, weitgehend dem Beat zuzuordnen und alle in englischer Sprache. Die Songs haben durchweg Ohrwurmcharakter, ohne jedoch zu nah am Pop orientiert zu sein. Klar gibt es eingängigere Stücke wie "Sing A Song", doch hält man gleich dagegen mit dem herrlich bluesigen "Mind My Own Business". Jürgens Sangesstimme klingt kraftvoll und frisch und auch die mehrstimmigen Passagen reißen mit, die Jungs konnten wirklich alle singen. Die Bläsersätze kontrastieren diese Klänge mit kernigen Akkorden und markanter Pointierung, was teilweise wie ein zweiter Bass-Effekt wirkt. Der Zeitgeist der späten Sechziger ist voll getroffen, mitunter vermittelt die Musik ein wenig "Hair"-Flair, das »Age Of Aquarius« ist irgendwie immer in der Nähe und bei "Little  Queen" vermag man eine Verwandtschaft zu "Ruby Tuesday" herauszuhören. So lag man im Trend der damals angesagten Hymnen einer entstehenden Popkultur, die die ganze Welt erfassen sollte und unsere Musik bis heute prägt.

Aus meiner Sicht das stärkste Argument für ein wirklich kultiges und rockiges Ambiente liefert Jürgens herrlich psychedelisches Gitarrenspiel. Ohne in den kurzen Songs zu allzu ausschweifenden Soli abheben zu können, liefert seine fuzzig erdige Saitenarbeit genau den rockigen Unterbau, der diese Musik von den zahlreichen Pop-Bands ihrer Zeit unterscheidet. Und dass die Jungs komponieren konnten, wird ebenfalls sehr deutlich, die Hooklines sind schmissig und abwechslungsreich, mit sehr viel Gespür für geile Melodien und Harmonien.

So gesehen ist es eigentlich erstaunlich, dass ein solches, wenngleich sehr kurzes Projekt in der öffentlichen Wahrnehmung so weit in den Hintergrund gerückt ist. Aber dieses Schicksal teilen viele Leidensgenossen, zuletzt empfand ich das ganz besonders bei dem hinreißenden Projekt A.R. & Machines von Achim Reichel, den die Leute heute oft und gerne auf "Kuddel Daddel Du" oder maximal die Rattles reduzieren mögen.

Das Bonusmaterial umfasst vier Songs von zwei Singles, die damals parallel erschienen und deren Nummern man auf der LP vergeblich sucht. Unser alter Freund Manni hat es mir neulich mal erklärt, dass man zu jener Zeit gerne so verfuhr. Natürlich, um die Leute zu einem zusätzlichen Kauf zu verleiten. Tatsächlich muss ich zugeben, dass auch meine ersten Musikplatten nur sieben Zoll maßen und mit 45 Umdrehungen abgespielt wurden. Damals, auf meinem ersten Plattenspieler und zwischen den Hörspielplatten von Tarzan und Karl May. Lang, lang ist es her.

Die Anderen waren sicher anders als die meisten deutschen Musiker damals, aber gar nicht anders als diejenigen, die wir heute noch gerne als die Basis unserer Kultur ansehen. Ich glaube, das ist das Vermächtnis dieser Band – heute, mehr als 50 Jahre nach ihrem Ende. Mir selbst war die Entdeckung  dieses versteckten Juwels deutscher Kultur auch eine Mahnung, Musiker nicht einseitig zu betrachten. Manchmal entdeckt man hinter Fassaden, mit denen man nichts anfangen kann und möchte, durchaus verborgene Talente, die man dem einen oder anderen überhaupt nicht zugetraut hätte. So mögen vielleicht Millionen Menschen ihren Spaß haben mit Jürgens Ballermann-Performances – sorry, nix für mich. Doch die Musik von damals, die hat mich mitgerissen, heute, so lange nach ihrer Entstehung. So präsentieren Die Anderen auch heute wieder ihre Musik aus der Konserve glücklicherweise erhalten gebliebener Tonträger für die anderen; die, die nicht am Ballermann tanzen.


Line-up Die Anderen/Apocalypse:

Jürgen Drews (lead guitar, vocals)
Gerd Müller (guitar, vocals)
Enrico Lombardi (bass, vocals)
Bernd Scheffler (drums, vocals)

Tracklist "Kannibal Komix":

  1. Little Little
  2. Neurotic Reaction
  3. Sing A Song
  4. Mind My Own Business
  5. Little Queen
  6. Man In The Moon
  7. Love
  8. White House
  9. Sunday Morning
  10. Choo Choo Train
  11. Elenor
  12. Cosy Rosy
  13. Sardegna (bonus)
  14. Forever And A Day (bonus)
  15. Somebody Loves You (bonus)
  16. In The Morning (bonus)

Gesamtspielzeit: 48:17, Erscheinungsjahr: 2003 (CD), 1968 (Original-LP)

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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