Die Band Chicorée war für mich nicht unbedingt das, was nach meinem Musikgeschmack einen eindeutigen Favoriten ausmachte. Doch deren Funk Rock stellte der 1985 in Berlin (Ost) gegründeten Formation ein gewisses Alleinstellungsmerkmal aus und nötigte mir allein schon deshalb eine Portion Respekt ab. Ein interessanter Farbtupfer im musikalischen Allerlei. In den Wertungssendungen des DDR-Rundfunks führte ohnehin kein Weg an der Band um Sänger Dirk Zöllner vorbei.
Bereits 1987 löste sich die Band auf. Der DEFA-Dokumentarfilm "Flüstern und Schreien" aus dem Jahr 1988 sorgte dafür, dass Chicorée zumindest auf der Leinwand Fortbestand hatte. Der gleichnamige Rockreport zeichnet die Geschichte von vier artverschiedenen DDR-Bands nach, darunter auch jene des Quintetts um Dirk Zöllner. Bei Fans genießt dieses Filmdokument heute durchaus Kultstatus.
Chicorée fielen mir allein wegen ihres vergleichsweise westlichen Outfits und ihrer Haarpracht auf. Man hätte sie äußerlich getrost dem Spektrum von Depeche Mode zuordnen können. Vor allem aber war es das Auftreten des charismatischen und selbstbewussten Sängers. Immer dann, wenn er in bewegten Bildern im Fernsehen oder später auf Videos zu sehen war, fiel er mir positiv auf. Das Lied "Käfer auf’m Blatt" von Chicorée (1987) ist für mich bis heute ein außergewöhnlicher Leckerbissen. Gefühlvoll und voller Poesie vorgetragen.
Alles zusammen genommen war der Name Dirk Zöllner für mich stets ein Markenzeichen und alles, was mit seiner Person zusammen hing, stand unter meiner besonderen Beobachtung.
Gemeinsam mit dem Pianisten André Gensicke gründete Zöllner im November 1987 Die Zöllner. Im November 2020 hatte ich mir einen Auftritt anlässlich der Jazztage in Dresden vorgemerkt – nur einen Tag nach dem geplanten Konzert von Gitarrenlegende Al Di Meola hätte dies sehr gut gepasst. Die Karten waren längst gesichert, doch Corona machte allen Akteuren und Besuchern einen Strich durch die Rechnung.
Doch der Künstler Dirk Zöllner hatte es geschafft, seinem Publikum genau für diesen Zeitraum eine andere Form der Unterhaltung anzubieten. In konservierter Form, nämlich in Buchform. In "Herzkasper" überzeugt er als guter Beobachter, beschreibt gesellschaftliche Phänomene genauso wie das Leben vieler Musikerkollegen. Es ist ein Buch aus der Corona-Zeit. So beschreibt der Autor, wie sich Musiker für unbestimmte Zeit vom Konzertalltag verabschieden müssen und was das für die betroffenen Protagonisten bedeutet. Viel mehr gibt es allerdings nicht zu diesem Thema. Eine gute Entscheidung.
Das im Eulenspiegel Verlag erschienene Werk ist nicht das erste Buch aus seiner Feder. 2012 erschien Die fernen Inseln des Glücks: Eine Biografie (Verlag Neues Leben) und 2017 "Affenzahn", ebenfalls im Eulenspiegel Verlag. Dirk Zöllner ist fraglos ein Mensch, der auf vielfältige Weise etwas zu sagen hat. Er ist ein Typ. Genau deshalb ergreift er das Wort. Es mag gut passen, dass ein Sänger, Songtexter, Komponist und Musical-Darsteller sich als Buchautor betätigt. Doch bei genauem Hinsehen spürt man bei Dirk Zöllner eine Gabe, die ihn als talentierten Schreiber ausweist.
Da finden sich reihenweise solche lockeren Sätze wie »Wir sind keine engen Freunde, aber er ist trotzdem mein Bruder«. Auf diese Weise beschreibt er seinen musikalischen Partner André Gensicke, mit dem er seit 33 Jahren gemeinsam auf der Bühne steht – bei den Zöllnern ebenso wie zu zweit bei Lesetouren.
Dirk Zöllner muss dem Leser als sympathischer Zeitgenosse erscheinen. Der heute 58-Jährige aus Berlin-Köpenick, der in seinem Buch einige Absätze ungeschminkt in Mundart hinterlässt, kommt ohne Zweifel ehrlich und authentisch rüber. Er schreibt über seine eigenen Schwächen, gleichzeitig belegen viele Passagen, dass er gern über den eigenen Tellerrand hinaus blickt.
»Aber die Rolle des dauerhaften Zuhörers ist für mich wirklich die klassische Fehlbesetzung« heißt es selbstkritisch, als er Reiseerlebnisse zu Konzerten mit anderen Musikerkollegen im Bus schildert, um sich an anderer Stelle selbstbewusst als »offenen und allseitig gebildeten Menschen« zu präsentieren. Warum nicht? Das Buch ist kurzweilige Unterhaltung, die in dieser Form wirkungsvoll zur Aufmunterung in diese schwierige Zeit passt.
Ein Schmankerl ist das Vorwort von Tim Hofmann, dem Ressortleiter Kultur der Tageszeitung Freie Presse aus Chemnitz. Hofmann schildert lebendig seine Eindrücke, wie er in den 1980er Jahren als eingefleischter Metalfan auf Dirk Zöllner und die Band Chicorée aufmerksam wurde. Die anfängliche Skepsis wich bei ihm sehr schnell. Daraus wurden Anerkennung und Respekt. In persönlichen und fast schon bewegenden Worten berichtet der Musikfan und Journalist aus Sachsen, wie er und Dirk Zöllner Freunde wurden. Sympathisch geschrieben und ein wunderbarer Einstieg in diese Lektüre.
- Verlag: Eulenspiegel Verlag
- 1. Auflage
- 192 Seiten, 12 x 19 cm, gebundene Ausgabe
- ISBN 978-3-359-01197-2
- Preis: 15 EURO
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