"Ihr da oben. Erinnerung, Mythos und kollektives Gedächtnis" ist eines von 13 Kapiteln in dem Buch "Rock Your Brain" von Dominik Feldmann überschrieben. Offiziell sind es 13 Essays, in denen sich der Autor philosophischen Gedanken und deren Widerspiegelung in der Rockmusik widmet. Essay bedeutet in der Literatur, dass eine wissenschaftliche Frage in knapper und verständlicher Form behandelt wird. Diesem Anspruch wird das Buch in vollem Umfang gerecht.
Den Begriff Mythos macht Dominik Feldmann vor allem an Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister fest, dessen Tod am 28. Dezember 2015 Fans und Musikerkollegen erschütterte. Die Form der Huldigung war damals vielfältig. So wurde ein Krokodil, dessen Überreste nach mehreren Millionen Jahren auftauchten, nach dem legendären Sänger benannt. Damit nicht genug: Eine Petition von Unterstützern in sechsstelliger Höhe setzte sich dafür ein, dass ein neuentdecktes chemisches Element den Namen 'Lemmium' erhalten sollte. Natürlich gab es auch normale Ehrungen wie eine Verabschiedungszeremonie auf dem Wacken Open Air 2016. Dominik Feldmann schildert in diesem Kapitel die Ehrerbietung an weitere verstorbene Musiker und zitiert später den französischen Philosoph und Literaturtheoretiker Roland Barthes mit den Worten: »Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, dass der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form«.
Daraus schlussfolgert der Autor in seiner Abhandlung, dass die verschiedenen Arten der Erinnerung an wichtige Bands und Künstler »als Teil eines spezifisch rockmusikalischen Zeichensystems mit seinen eigenen speziellen Symbolen gesehen werden» kann.
Der zitierte französische Philosoph wurde bereits 1915 geboren, sein Buch "Mythen des Alltags" erschien 1957. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es in der Betrachtungsweise des beschriebenen Phänomens gar nicht um Musik, sondern um allgemeine Beobachtungen gegangen ist.
Das Buch von Dominik Feldmann führt den Untertitel "Rockmusik und Philosophie in 13 Essays". In allen Abschnitten nimmt er den Leser mit auf die Reise durch dieses Studienfach an Universitäten, das für sich betrachtet wohl mehr eine trockene Angelegenheit ist. Der Buchautor stellt immer wieder die Frage, was uns Philosophie im Alltag sagen kann und projiziert dies anhand der Theorie auf die Rockmusik. Er arbeitet mit sehr vielen Textbeispielen, die alle im Original veröffentlicht worden sind. Eine Säule des Buches ist es, dass er viele Genre der Rockmusik und damit auch sehr viele Musiker einbezieht. Diese Künstler und Bands sind im Anhang alle namentlich aufgeführt. Dort ebenfalls nachzulesen ist ein Literaturverzeichnis, das sich allerdings als eine Auswahl versteht.
Spätestens an dieser Stelle begegne ich dem Buchautor in großer Ehrfurcht, hatte ich doch bei meiner eigenen Diplomarbeit vor exakt drei Jahrzehnten akribisch darauf geachtet, meinem Mentor keine Quellenangabe zu unterschlagen, um ihn und die anderen Lehrkräfte nicht zu enttäuschen.
Dominik Feldmann geht aber noch einen Schritt weiter. Seine zahlreichen Zitate fasst er am Ende eines jeden Kapitels zusammen. Wer aber auf den 204 Seiten eine sture wissenschaftliche Abhandlung vermutet, liegt falsch. Feldmann informiert und unterhält. Das gelingt ihm nach meiner Einschätzung deshalb so gut, weil er ein gutes Fachwissen hat, aber gleichzeitig Musiklieber durch und durch ist. Der leidenschaftliche Gitarrenmusik-Fan studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Augsburg und promovierte dort nach seinem Abschluss. Doch so sehr ihn im Alter von acht Jahren die Single "Schrei nach Liebe" der Band Die Ärzte begeisterte und damit den Weg für diese Leidenschaft ebnete, so sehr interessierte er sich außerdem für die Philosophie mit den Werken von Nietzsche, Derrida, Foucault und Lyotard. Um auf Seite 41 den berühmten Satz von Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) aus dessen Götzen-Dämmerung von 1889 zu zitieren: »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.«
Die Herangehensweise ist es, Grundsätze der Philosophie zu benennen und aufzuzeigen, wo diese Ansätze in der Rockmusik stecken. Das betrifft sowohl Textbotschaften als auch die Entstehung von Szenen. Feldmann stellt die These auf, dass die Liebe der Menschen zur Musik bis in die Antike und Aristoteles zurück reiche. »Obwohl er nie eine Abhandlung schrieb, die ausschließlich die Musik seiner Zeit und ihre Bedeutung analysierte, geben seine Schriften wichtige Einblicke in die Bedeutung der Musik während der Antike.« Feldmann zufolge habe die Musik bereits damals Einfluss auf die Politik und die Persönlichkeit von Menschen gehabt.
Während Aristoteles zu der Feststellung gekommen war, dass erst die Musik zu einer vollen Entfaltung der dramatischen Theateraufführung führt, nennt der Autor die theatralischen Elemente bei Konzerten der sogenannten Schock-Rocker wie Marilyn Manson oder Black Sabbath beziehungsweise Ozzy Osbourne. Aber auch Alice Cooper und die Band Rammstein mit ihren fast schon schauspielerischen Darbietungen auf der Bühne dienen als Beleg.
Im Essay "You’re Creating God. Tod und Erfindung Gottes" erinnert der Autor an eine schwierige Zeit für die Band Iron Maiden, die dem Leser gleich an mehreren Stellen des Buches begegnet. Mit The Number Of The Beast (1982), das als erstes Heavy-Metal-Album auf Platz 1 der britischen Albumcharts einlief und junge Bands bis heute beeinflusst, kam nicht nur der weltweite Durchbruch für die Musiker. Textpassagen und das Cover mit Maskottchen Eddie sowie ein nach dem Betrachter greifender Teufel mit Dreizack riefen damals viele radikale Christen auf den Plan. Fans der britischen Band wurden in die Nähe des Satanismus gerückt. Hierbei geht es ausnahmsweise nicht um den Spannungsbogen zwischen Rockmusik und Philosophie, sondern um biblische Erscheinungen in der Musik, wie sie nicht selten zu beobachten sind. Der Buchautor erklärt, dass die Zahl 666, die im Titelsong vorkommt, in der Offenbarung des Johannes als die 'Zahl des Tieres' gilt. Diese beschreibt die Apokalypse der Erde.
»In diesem Buch verbindet er seine ungewöhnlichen Leidenschaften, die dionysische der Rockmusik mit der apollinischen der Philosophie, die körperlich-raue mit der vergeistigen Welt« lesen wir im Einleitungstext. Doch kein Rockmusiklieber muss deshalb befürchten, vor einer Vielzahl von Fremdwörtern den Überblick zu verlieren. Es ist eine Stärke von Dominik Feldmann, dass er weitestgehend auf Fachbegriffe verzichtet. Wenn solche Wörter erscheinen, dann liefert er sofort die passende Übersetzung.
Damit ist Skepsis nicht angebracht. Der informative Charakter des Buches und die außergewöhnliche Verknüpfung von Philosophie und Rockmusik anhand vieler Beispiele gestaltet die Lektüre zu einer kurzweiligen Angelegenheit, zumal dies in abgeschlossenen Kapiteln beziehungsweise Essays passiert. Gerade angesichts der bevorstehenden langen Herbst- und Winterabende ist dies der ideale Tipp für Fans der Rockmusik, die gern einmal über den Tellerrand hinaus schauen möchten.
Phantom Verlag
ISBN-13: 978-3-927447-09-7
18,90 € (D)
204 Seiten
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