
Seit bereits mehr als 35 Jahren ist der (Wahl-) Berliner Udo Erdenreich als Theater-, Film- und Avantgarde-Musiker unterwegs. In dieser Zeit kam es zur Gründung und dem Auseinanderfallen so einiger Projekte und Bands, von denen aber einige immerhin ihren Nachlass in Form von Aufnahmen hinterlassen haben. Und dabei geht es musikalisch so kunterbunt zu, wie man es sich nur vorstellen kann. Jede einzelne Combo fährt ihren eigenen Sound und alle zusammen verbindet eigentlich nur eines, nämlich dass sie meilenweit vom Massengeschmack weg sind. Die älteste hier vertretene Aufnahme stammt aus dem Jahr 1982 und ist von der Band Sperrfeuer. Ja, und das ist purer Punk Rock der damaligen Zeit, maximal drei Akkorde, furchtbarer Sound und alles voll auf die Zwölf. Bezüglich des Sounds muss man der Band wohl zugute halten, dass sie von den Aufnahmen lediglich einen schlechten Rough Mix erhielt und die Masterbänder wieder gelöscht wurden (so ist es zumindest auf dem Cover vermerkt). Womit das Thema für den nächsten Songtext damals eigentlich schon gefunden worden sein dürfte.
Von zwei Ausnahmen abgesehen sind die meisten Projekte hier nur mit einem einzigen Stück vertreten. Die erste davon (und um chronologisch korrekt zu bleiben) ist die Band 100 Fleck, die immerhin zwei Songs aufbieten kann. Beide wurden für Theaterstücke komponiert und im ersten ist zu sehr viel Rauschen die Stimme von Antonin Artaud zu hören, während "Ra Ta Ra" wieder stark in Richtung Elektronik geht. Candongo, die Zusammenarbeit mit Det Auell und hier mit "Sixsex" am Start, ist ein rein mit Maschinen programmiertes Stück, während Udo Erdenreich dafür den Gesang übernommen hat. Interessanterweise wurde hier ein Sample von Frank Zappas "We’re Only In It For The Money" eingebaut. Ansonsten war das Elektronik im Duo-Format aus dem Jahr 2003. Hagel Forte Plus und die Nummer "Bundeslied" (yeah, zurück zum Punk Rock, everybody!) sowie Schickreich mit "Kang Rinpoche" sind die aktuellsten Aufnahmen und stammen aus dem Jahr 2008.
Udo Erdenreichs offensichtliches Lieblingsobjekt bzw. das von dem Protagonisten wohl am wichtigsten angesehene Bandprojekt ist offensichtlich Tura Ya Moya, das bei dieser Compilation immerhin auf stolze vier Tracks kommt. Da steckt sehr viel fernöstliche Musik drin, die sich mit krautigen Klängen vereint ("Neo Eso"), bei "Gesänge" das Theremin die Hauptrolle zu Erdenreichs Sprechgesang übernehmen lässt, bei "Axis Mundi" sorgen dann tatsächlich die langgezogenen Gesänge von Karen Thastum für einen nachhaltigen Effekt, während es sich bei "Hafentraum" um ein psychedelisches Seemanslied (mit abgefahrenem Text) handelt. "Das Fieberspital" von PZL hört sich musikalisch und textlich ganz genau so an (klasse umgesetzt!) und "Berlin Boost" ist ein feines ruhigeres Instrumental, das mich sogar etwas an die Musik von Tom Waits zu Zeiten der "Frank’s Wild Years"-Trilogie erinnert. . Und schließlich wäre da noch das Projekt Ziguri, dessen hier vertretenes "PramidSelfHelpSystem" aus dem Jahr 1997 die erste Seite psychedelisch/avantgardistisch beschließt.
Der Albumtitel verspricht bereits eine Fortsetzung dieses ersten Albums von Erdenreich bei Sireena Records, in der dann wahrscheinlich die Jahre 2008 bis zur Gegenwart abgedeckt werden. Aber auch weitere Ausflüge in die tiefere Vergangenheit wären durchaus interessant. Man braucht ganz sicher ein gewisses Maß an offenen Ohren, einen offenen Geist und den Willen, auch mal über den eigenen Tellerrand hinaus blicken zu können, um diese Scheibe ins Herz zu schließen. Denn wenn sie eines nicht ist, dann konventionell, eingängig oder gar mit Hit-Songs versehen. Die Abenteurer und Entdecker unter den Musik-Fans werden dagegen ihre helle Freude an "Tai Chi Tu…" haben, da hier so einiges schlummert, das für echte Überraschungen sorgt.
Tracklist "Tai Chi Tu – Retrospective One":
- Tura Ya Moya – Axis Mundi
- PZL – Das Fieberspital
- Tura Ya Moya – Hafentraum
- Erdenreich – Berlin Boost
- Sperrfeuer – Affenhaus
- Ziguri – PyramidSelfHelpSystem
- Candongo – Sixsex
- Tura Ya Moya – Neo Eso
- 100 Fleck – Ich habe gestern
- Tura Ya Moya – Gesänge
- Hagel Forte Plus – Bundeslied
- 100 Fleck – Ra Ta Ra
- Schickreich – Kang Rinpoche
Gesamtspielzeit: 24:57 (Side 1), 24:53 (Side 2), Erscheinungsjahr: 2018 (1982 – 2008)
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