Welches Album einer Band man als besonders prägend empfindet, kann durchaus viel mit subjektivem Empfinden zu tun haben. Klar ist es nicht ungewöhnlich, dass jenes, das man als erstes sein eigen nennt, so richtig 'zündet', während andere Menschen einen müde belächeln und darauf verweisen, was die Gruppe schon alles Tolles geleistet hat. So erinnere ich mich beispielsweise an ein Queensrÿche-Konzert in der Hugenottenhalle in Neu-Isenburg auf der seinerzeit aktuellen "Q2K"-Tour. Da standen schräg rechts vor uns ein paar Mädels, die ausgelassen feiernd (!) den brandneuen Queensrÿche-Song "Burning Man" (!!) voller Inbrunst mitsangen (!!!).
Von Queensrÿche aber nun zu einer anderen Prog Metal-Kultband: Fates Warning. Und auch, wenn ich mich nie so kopfschüttelnd belächelt gefühlt habe, wie möglicherweise die Queensrÿche-Quereinsteigerinnen in der Neu-Isenburger Hugenottenhalle, so kenne ich dennoch die Reaktion von 80er-Jahre-Metal-Puristen, die finden, Fates Warning seien nach dem Abgang von Sänger John Arch im Jahre 1987 nie mehr dieselben gewesen. Nun, das stimmt ganz gewiss. Diese Band hat sich mehr als einmal stark verändert – Songs aus der Arch-Ära finden live sogar seit vielen, vielen Jahren kaum noch statt. Und "Parallels" von 1991 – nach "No Exit" und "Perfect Symmetry" schon das dritte Album mit Sänger Ray Alder – war dieses eine, das die Band quasi neu definiert hat mit.
Es ist für mich eines ihrer aus vielen famosen Studioalben herausragenden Werke – nicht nur, weil es das erste war, das ich mir selbst für 18,95 D-Mark auf CD gekauft habe. Keine Frage – der Vorgänger "Perfect Symmetry" ist legendär großartig, ist aber noch von einem gewissen 80ies-Sound geprägt – und auch stilistisch lässt es sich noch zu einer Übergangsphase rechnen. Aber "Parallels" ist für mich das erste Album, das absolut zeitlos klingt. Dafür verantwortlich zeichnet kein Geringerer als Terry Brown, der aufgenommen, gemixt und produziert hat. Zu ihm nach Toronto ist die Band gereist, voller Ehrfurcht vor diesem Klangmeister, der schon bei Rushs "Moving Pictures"-Album als Producer arbeitete. Und die von beiden Seiten rückblickend mit großer Wertschätzung betrachtete Zusammenarbeit erwies sich als großes Glück. Auch, dass Bandkopf Jim Matheos zum ersten Mal seit den ersten beiden Alben zwei Mal in Folge im Studio dasselbe Line-up zur Verfügung hatte.
Man kasiernierte sich im kanadischen Hotel ein, wobei aus geplanten Wochen tatsächliche Monate wurden – Glück dem, der sonst nix vor hat … Das Beisammensein führte zwar auch zu immensen Spannungen – man arrangierte sich aber schließlich derart, dass Matheos seine Songs schrieb und man immer wieder zusammenkam, um seine Songs mit den Riff- und Groove-Ideen der anderen zu kombinieren. Und heraus kamen Songs, die ganz bewusst kompakter und griffiger waren als früher, mehr oder weniger dem Modell "Through Different Eyes" vom Vorgängeralbum folgend. Als vorherrschende Gangart war das neu. Eine revolutionierte Song-Architektur und ein neuer Klang – wieviel genialer könnten da die ersten Worte dieses Werks sein?
»And here we are again / The door is closed behind us
And the long road lies ahead / Where do we go from here?«
"Leave The Past Behind" – allein der Titel des Openers hat so viele Facetten wie die Musik Magiemomente. Kompakte Komposition bedeutet dabei noch lange nicht, dass die Band verflacht wäre. Immerhin reimt sich in den Lyrics fast nix – das hatten Fates Warning nicht nötig. Und was da an Grooves und Riffs und Rhythmik binnen 'eingängiger' Strukturen gezaubert wird, ist mit weltlichen Worten kaum hinlänglich beschreibbar. Insbesondere Schlagzeuger Mark Zonder wächst über sich hinaus. Unfassbar, in welchen Zählzeiten hier Trommeln grooven und Becken klingen – diese Mischung aus schwebendem Flow und pointierter Heaviness ist unerreicht. Was für ein Gefühl, welch eine Technik! Er selbst – inzwischen leider ja nicht mehr in der Band – gab in einem Interview anlässlich der 2010er-Bonus-Edition zu Protokoll, dass er erst nachhören müsse und sich gar nicht genau erinnern könne – aber »es war ziemlich kompliziert mit den 5ern und 6ern«.
Bekanntester Song von "Parallels" sollte "Eye To Eye" werden – ’sollte', ja … und wurde es auch, dank eines Musikvideos, welches dank offensiver Unterstützung der Plattenfirma Metal Blade verhältnismäßig oft auf MTV zu sehen war. Nicht übermäßig schwermetallisch, dafür sehr melodisch … kommerziell? Die Befürchtungen der Band waren durchaus vorhanden, doch im Endeffekt wurde das Stück zum Türöffner. Man gewann neue Fans hinzu – eben auch jene, die kamen, um "Eye To Eye" zu hören, die Nummer aus dem Fernsehen – und spielte fortan in größeren Hallen. "Eye To Eye" pushte "Parallels" zum verkaufsstärksten Album der Bandgeschichte. Doch keine Sorge – man biederte sich nicht, sondern bot sich dem Mainstream an. Der Mainstream bekam aber nur den kleinen Finger und nie die ganze Hand. Der legendäre B-Part »All we can really share is the coldness we feel / And the silent memory of the moment we met« treibt Fans noch heute Glückstränen in die Augen.
Weitere melodiös geprägtes Song finden Platz auf dem Album: "We Only Say Goodbye" und natürlich "The Road Goes On Forever" – so wehmütig und doch so schön, so sehr Fates Warning. Schwächen hat "Parallels" keine. Auch die mit etwas mehr Tempo und Heaviness ausgestatteten "Life In Still Water" und "Point Of View" gehören zum Besten des Band-Repertoires und sind Paradebeispiele dafür, wie Eingängigkeit und Spannung so zusammenwirken können, dass man gar nicht so recht weiß, auf was man sich mehr freut – Chorus oder Strophen. Kuriosum für Prog-Fans: Die Backing Vocals von "Life In Still Water" singt ein gewisser James LaBrie. Normalerweise hätte das auch bei diesem Stück Ray Alder selbst gemacht, aber es gab Zeitptrobleme – und so schlug Terry Brown diesen LaBrie vor, der gerade erst bei Dream Theater eingestiegen war. Über wieviele Highlights von "Parallels" habe ich jetzt schon geschrieben? Die größte Perle dieses sechsten Fates Warning-Studioalbums ist unterm Strich wohl "The Eleventh Hour" – ich würde viel darauf wetten, dass bei so ziemlich jeder Fanabstimmung dieser Mehr-oder-weniger-Longtrack gewinnen würde, der in gut acht Minuten mit seiner Struktur aus expressivem Mittelteil und introvertierem Rahmen die Quintessenz der Band bündelt. Großartig. Und welch ein Parforceritt Ray Alders.
Mit "Parallels" waren Fates Warning urplötzlich auch kommerziell erfolgreich. Und es ist beinahe Ironie des Schicksals einer Progressive Metal-Band, die (beabsichtigt oder nicht) das Genre federführend mehr als einmal mitrevolutionierte, dass die Plattenfirma ihre neuen Lieblinge danach quasi fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Dieses Album ist und bleibt ein Meilenstein des keyboardfreien Prog Metals.
»And here we are again / The door is closed behind us
And the road goes on and on …«
("The Road Goes On Forever")
Line-up Fates Warning:
Jim Matheos (guitar)
Ray Alder (vocals)
Frank Aresti (guitar)
Mark Zonder (drums, percussion)
Joe DiBiase (bass)
Guest musician:
James LaBrie (background vocals – #2)
Tracklist "Parallels":
- Leave The Past Behind (6:14)
- Life In Still Water (5:44)
- Eye To Eye (4:06)
- The Eleventh Hour (8:12)
- Point Of View (5:07)
- We Only Say Goodbye (4:56)
- Don’t Follow Me (4:42)
- The Road Goes On Forever (6:32)
Gesamtspielzeit: 45:31, Erscheinungsjahr: 1991
Neueste Kommentare