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Focus / Hamburger Concerto – CD-Review

Für ein Weihnachts-Special kam aus dem reichen Schatz früher Focus-Werke eigentlich nur das "Hamburger Concerto" in Frage, zitiert es doch in seiner Haupt-Suite das traditionelle holländische Kirchen- bzw. Weihnachtslied "Oh Kerstnacht, Schoner Dan De Dagen". Dass es sich bei diesem Album weder um ein Live-Konzert, noch um irgendwelche Inhalte im Zusammenhang mit der Stadt Hamburg handelt, sei schon mal voraus geschickt.

Stilistisch und vor allem wegen seiner jamartigen, herrlichen Langläufer wäre mir sicherlich auch "Focus III" sehr am Herzen gelegen, aber auch das hier besprochene, vierte Studio-Album der virtuosen Holländer bietet alles, was einem Klassiker gut zu Gesicht steht. Mit Thijs van Leer und Jan Akkerman, der ein Jahr zuvor vom Melodie Maker zum weltbesten Gitarristen gewählt worden war, verfügte die Band über zwei außergewöhnliche Solisten, die neben ihrer ungeheuren spielerischen Potenz auch auf eine fundierte musikalische Ausbildung zurück blicken konnten. So verwundert es wenig, dass sich auf der Platte diverse Anspielungen und Zitate auf eben solche Wurzeln befinden. Dabei sind die regelmäßig eingebrachten Flöten-Töne von Thijs sicherlich genauso prägend wie sein ausgefeilt präzises Spiel auf so ziemlich allem, was Tasten hat. Und für den Gesang zeichnete er ebenfalls verantwortlich, wobei die Vokalparts in der Musik von Focus nie einen allzu bedeutenden Anteil einnahmen und mitunter fast eher instrumentalem Gebrauch nahe kamen. Die Band bestach vor allem durch ihre großartige instrumentale Vielseitigkeit zwischen jazziger Improvisation, orchestralem Progressive Rock und filigranen Barock-Einlagen.

Insgesamt kann man "Hamburger Concerto" in der Historie der Band durchaus als einen Wendepunkt betrachten, veränderte sich doch der Duktus von Focus von den ausladenden, noch mehr auf Improvisation ausgelegten Songs ein Stück weit hin zu gängigeren Melodien und Strukturen, ohne jedoch die ekstatischen Soli aus den Augen zu verlieren. Immerhin, Schlagzeuger Pierre van der Linden war von dieser neuen Ausrichtung nicht allzu angetan und verließ vor den Aufnahmen die Band. Er wurde durch Collin Allen ersetzt.

Die Virtuosität vergangener Alben hingegen blieb ungebrochen, ob beim fast mittelalterlichen Präludium namens "Delitae Musicae" oder in "Birth" mit einem herrlichen Dialog zwischen Thijs'  klassischen Flöten und Jans schon damals verteufelt genialen Phrasierungen, die ihn einst zu einem ganz Großen des Jazz machen sollten. Übrigens ganz wunderbar klassisch eingeleitet auf einem Spinett. Kontrapunktierend kommt mit dem zweiten Stück ein fetziger Kracher zwischen die klassisch angehauchten Muster. In "Harem Scarem" dominieren ein aggressiver Bass und genial treibende Orgeln, während schon mit dem nächsten Song "La Cathedrale De Strasbourg" wieder ein zurückgenommenes Cross-Over-Meisterwerk mit einem perfekt pointierten Duett zwischen klassischem Piano und sakraler Orgel als ein ruhender Pol im Album geschaffen wird.

Eben dieser Hang zu klassischen Wurzeln begründet auch das epische Titelstück, ein kunstvoll, aber erstaunlich schnörkelloses Machwerk von mehr als zwanzig Minuten, das auf einem Werk von Johannes Brahms basiert und ein dezentes, sofort ins Ohr gehendes Grundthema auf der Hammond für die gesamte Suite vorgibt. Ein Thema übrigens, das schon ganz kurz in "Birth" angerissen wurde, ohne vorab etwas zu verraten. Das "Hamburger Concerto" bewegt sich erstaunlich organisiert und unaufgeregt auf seinen Höhepunkt zu, ein wieder einmal unfassbar explodierendes Gitarrensolo von Jan, in dem er mit der Intensität und unseren Empfindungen spielt, uns puscht und bremst, gerade wie es ihm in den Sinn kommt. Gespenstisch gut und von überirdischer Intuition. Genau so sanft, wie Jan uns in diese Achterbahnfahrt hinein geführt hat, so elegant leitet er über in die nun absolut kirchlich klingende Passage mit dem schon zitierten, holländischen Weihnachtslied. Spärliche Orgel untermalt den zurückhaltenden Gesang, bevor eine schweinemäßige Orgel die musikalische Szenerie schlagartig überrollt und in hymnischen Harmonien gipfelt, die in ihrer Melodik mit der gleich geschalteten Gitarre ein wenig nach den frühen Mike Oldfield-Werken klingen. Ein Stück Bombast vom Allerfeinsten.

Mit einem Zitat auf den guten alten Big Ben klingt das orchestrale Monumentalwerk aus und lässt mich tief befriedigt zurück, ein wahrhaft festliches Epos für die Weihnachtszeit.

Zwei Jahre später widmete sich Jan Akkerman seiner Solokarriere und kam vorerst nicht wieder zurück. Focus hielt noch zwei Alben durch und dann schien endgültig der Deckel drauf.

Nun habe ich für diese Review endlich zu ergründen versucht, warum das "Hamburger Concerto" eigentlich so heißt, wie es heißt. Irgendetwas Tiefgründiges, vielleicht Dramatisches aus der Stadt an der Elbe, dachte ich, wo doch die Musik tatsächlich sehr erhaben und mit so vielen seriösen Zitaten aufwartet. Pustekuchen. Wenn man sich einige Teilstücke des Concertos näher anschaut, kommt man der Sache näher: "Rare, Medium I, Medium II, Well Done". Das liest sich wie die Aggregatzustände eines guten Stücks Rindfleisch und tatsächlich soll Jan Akkerman, während ihm in einem New Yorker Hotel plötzlich das Hauptthema des Concertos in den Sinn kam, gerade einen Hamburger gegessen haben, was ihn zu diesem Titel inspirierte. Etwas unromantisch, aber voll von unerwartet schrägem Humor und immer noch gut, wenn man bedenkt, was alles sonst noch dabei hätte herauskommen können: 'Tomato-Broto-Concerto' in Anlehnung an einen alten Otto Waalkes Sketch wäre beispielsweise ein gruseliger Titel geworden. Wer hätte schon so eine Platte kaufen wollen? Dann schon lieber so, wie es ist.

Unvergesslich bleibt mir im Zusammenhang mit Focus auch ein Ausspruch von Stefan Koglek während eines Interviews mit seiner Band Colour Haze. Auf Jan Akkerman angesprochen googelte er nach der Band, stieß auf "Hocus Pocus" und bekannte erschreckt: »Jodelnde Holländer, meine Güte…«

Ja, Thijs van Leer jodelt. Immer wieder. Bis heute, denn die Band ist seit 2002 mit wechselndem Gitarristen immer wieder mal am Start, so auch aktuell mit einem schönen neuen Album.

Na denn, 'Hollerahdulliöh'.


Line-up Focus:

Thijs van Leer (keyboards, organ, piano, vocals, flute)

Jan Akkerman (guitar, percussion)

Bert Ruiter (bass, percussion)

Colin Allen (drums, percussion)

Tracklist "Hamburger Concerto":

  1. Delitiae Musicae
  2. Harem Scarem
  3. La Cathedrale de Strasbourg
  4. Birth
  5. Hamburger Concerto
  6. Early Bird (nur CD)

Gesamtspielzeit: 42:58, Erscheinungsjahr: 1974

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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