Da, wo der Pott kocht
Duisburg ist die Stadt der Stahlkocher, der Malocher, der ehrlichen Arbeiter – so liest sich unsere Geschichte aus der Vergangenheit und so kann es niemanden wundern, dass eine Figur wie Horst Schimanski hierhin und nur hierhin gepasst hat. Die Zeiten haben sich geändert, jenseits von nostalgischen proletarischen Ideologien hat uns die Wirklichkeit mit schrägen und bedenklichen Entwicklungen längst eingeholt. Der MSV gurkt in der dritten Liga herum und kämpft wirtschaftlich jeden Tag ums Überleben, soziale und gesellschaftliche Unwuchten zerstören immer mehr Stadtteile, die Industrie ist platt und irgendwie grooven wir jeden Tag ein Stück weit um den Erhalt unserer Existenz herum. Mal im Ernst, wo, wenn nicht hier blüht der Nährboden für Blues’n’Rock’n’Wattsonsnichnochalles?
Fools Errant kommen von hier, sie sind welche von uns und sie machen Musik nun schon seit dreizehn Jahren. Der Titel 'Decade' schlabbert da wörtlich genommen sogar drei Jahre der eigenen Historie.
Ich hab sie gesehen, letztes Jahr beim Open Air auf dem Opernplatz, als Support für Peter Burschs Allstar Band und Gotthard. Es war ein guter Abend für Duisburg und die Musik.
Die Jungs haben etwas, was das Wichtigste ist im Leben: Sie haben Herz und das klingt aus jedem einzelnen Song. Ihre Musik hat viele Eigenschaften von alternativem Rock, sie mögen Ausflüge ins Metallene genauso sehr wie richtig stimmige Balladen. Sie kennen keine Angst vor (ein bisschen) poppigeren Ausflügen, die ihnen ganz sicher die eine oder andere Radio-Präsenz geschenkt haben sollten – und damit meine ich keinesfalls nur unser Radio Duisburg. Dreizehn Jahre Erfahrung, internationale Konzerte mit fünfstelligen Zuschauerzahlen, das alles kann kein Zufall sein. Und Preise haben sie abgeräumt, jede Menge! Wer Kritiker und Fans befriedigt, muss irgend etwas richtig machen.
Darf ich an dieser Stelle eine alte Reminiszenz loswerden? Gerade in den Momenten, wo der alternative Charakter der Musik sich besonders heraus kristallisiert, nähern sich Fools Errant meinen alten Freunden von Been Obscene an, deren Harmonien und rhythmischen Ideen in diesen Momenten so nahe sind – ich vermisse die Jungs aus Salzburg nun schon seit sieben Jahren seit ihrer Auflösung; wunderbare Musiker und großartige Menschen, wie ich sie nur ganz selten kennengelernt habe. "The Getaway" ist der erste Song dieser Ausprägung ("Fireflies" legt da gleich nach) und ganz nebenbei mag ich erwähnen, dass Been Obscenes größter Song "Demons" heißt. Einen solchen Titel finden wir auf "Decade" auch, beide haben aber nichts gemein.
Aber "Sirens" gleich zum Auftakt hat etwas mystisches, eine Nummer, die mich mit ihren Stimmungen umhaut.
"On The Run" ist einer meiner Top-Favoriten. Geiles Intro, geile Rhythmen, vor allem dieser unverhohlene Hang zu metallenen Riffs. Und der Refrain klingt fast wie bei Rainbow in den Achtzigern. Das geile Solo finalisiert diesen Eindruck perfekt – hey, wir sind in Duisburg unterwegs. Und dann "Lighthouse", eine klassische Ballade, die ein bisschen vom Spirit des leider so früh verstorbenen Jeff Healey aufnimmt – aber Leute, wer spielt denn da die Orgel? Den nennt Ihr auf dem Album nicht. Sollte nicht sein, denn der Sound passt perfekt zum Song, so wie einst Johnny Neel die Musik der italienischen Jamrocker W.I.N.D. bereichert hat. Sogar mit Gov’t Mule hat er einst gespielt.
"Escapade" ist zu Beginn eine hinreißende Ballade, eine geniale Nummer zwischen Gesang und Gitarre, die nach einem Gänsehaut-Auftakt in poppigeren Gewässern schifft. Dabei hat der Refrain fast so etwas wie Hit-Charakter, der aus meiner Sicht aber durch den Background-Chor überzogen wird. Ich hab’s ja nicht so mit den populären Nummern. Ein wenig trifft das auch auf den Nachfolger "Sometimes Music…" zu, der allzu eingängig den Weg in die Gehörgänge sucht. Fools Errant scheinen dies geahnt zu haben, denn nun hauen sie uns "SYOTOS" um die Ohren, was immer das bedeuten soll. Riffiger war es bislang nicht und im Hintergrund klingt sogar eine dezente Twin-Guitar an. Jetzt glänzt ein bisschen Metall, dafür stand unsere Stadt ja einst ganz besonders. Für das Original, nicht die Musik. Das Solo kommt dennoch wie ein schön geschmolzener Strom stahlhaltiger Substanzen herüber und befriedigt die Freunde der härteren Front. Alter Bridge waren ja immer schon eine Vergleichsband für Fools Errant.
"Euphoria" schickt mich unerwartet noch einmal auf einen völlig anderen Trip, da die Harmonien hier ganz viel Ähnlichkeit haben mit einem progressiven Projekt, das ich sehr gerne mochte. Der Refrain klingt fast wie bei John Mitchells Kino. Der rhythmische Wechsel verstärkt diesen Eindruck nur noch.
Aber einen Rüffel kann ich mir nicht verkneifen. Eine geile Stimmung mit sehr viel Emotion wie im letzten Song, "Heavy Heart", der sogar mit sanften Streichern aufmacht, so gänzlich und dem Titel widersprechend mit einem simplen Ausblenden die Pointe zu rauben, ist ein bisschen Blasphemie. Ey Leute, watt habter denn da gemacht? Datt geht nich!
Davon abgesehen geht ganz viel auf "Decade", dem vierten Album meiner Landsleute aus Duisburg. Geile Melodien und Hooklines, Songs für die Birne und für die Eier – immer auf ihrem eigenen Pfad und voller Emotion. Und total abwechslungsreich, da gibt es so viele Stimmungen zu entdecken. Coole Mucke gibt es nicht zwingend bei den Superreichen, wer sich umschaut in der eigenen Umgebung, der wird gerade im brodelnden Pott und seiner dezenten Umgebung so viel Freude finden, dass es keiner Millionäre bedarf. Back to the roots ist keine Frage des Bekanntheitsgrats, sondern der Hingabe und Leidenschaft. Ich hab es schon an anderer Stelle geschrieben: Pott rules!
Line-up Fools Errant:
Raphael Peller (vocals)
Nico Henne (drums)
Dirk Wollert (bass)
Martin Hahn (guitar)
Jascha Jakobs (guitar)
Tracklist "Decade":
- Sirens
- The Getaway
- Fireflies
- On The Run
- Lighthouse
- Demons
- Escapade
- Sometimes Music…
- SYOTOS
- Euphoria
- Heavy Heart
Gesamtspielzeit: 47:57, Erscheinungsjahr: 2020
1 Kommentar
Hans-Hermann Ziegler
15. September 2020 um 16:39 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Decade ist meiner Meinung nach das Beste, das die Truppe bis jetzt abgeliefert hat. Sie scheint sich stetig weiter zu entwickeln! Ich hoffe, sie im nächsten Jahr endlich wieder live zu erleben, da ist sie noch wesentlich besser als im Studio.