Glanz und Aromen in der Stadt der Liebe
Paris, Ende des 18. Jahrhunderts: Die Toten der überfüllten Stadtfriedhöfe verschwinden in den nach und nach stillgelegten Steinbrüchen, welche für das Absacken ganzer Straßenzüge verantwortlich waren und so zu einer Leichenkammer umfunktioniert wurden, den sogenannten Katakomben.
Paris 1981, das New Morning wird eröffnet: Die Soundtracks zu "La Boum – Die Fete" und "Der Profi" (Jean-Paul Belmondo), Stevie Wonder, Stray Cats, Alain Bashung, Jean Michel Jarre, Kim Carnes und die Rolling Stones dominieren die französischen Albumcharts – die Jazz- und Bluesszene gleicht eher überirdischer Leichenkammern – als Eglal Farhi am 16.04.1981 das New Morning eröffnet, ein Loft als Mischung aus Konzertsaal und Club, welches vom Woodstockveteran Richie Havens eingeweiht werden soll, letztlich aber Art Blakey mit seinen Jazz Messengers einschließlich den Marsalis-Brüdern triumphieren sieht. Eine Wiedergeburt des Jazz an der Seine-Metropole!
Schöppingen, 18. Grolsch Blues Festival 2009: Zum zweiten Mal ist ein gewisser Henrik Freischlader im Festival Line-Up – während Joe Bonamassa als Headliner auftrumpft – begleitet Layla Zoe bei ihrem Deutschland-Debüt und wird mit seiner kurzlebigen Combo 5-Live vorstellig … im gleichen Jahr gründet er sein Musiklabel Cable Car Records und entwickelt sich zur Speerspitze der deutschen und europäischen Bluesszene. Gleichzeitig wird ein Ausruf geboren der andeutet, dass der Schreiberling dieser Zeilen dieser Entwicklung nur begrenztes Verständnis entgegenbringen kann: »Auch Freischlader war gut«.
DixieFrog, 12.03.2009: Das französische Independent-Label mit Schwerpunkt Blues- und Weltmusik veröffentlicht das Album "Night Work" von Billy Price & Fred Chapellier, welches die Spitze der US Billboard Blues Charts erklimmen kann. Price war der originale Sänger von Roy Buchanans Band zwischen 1972 und 1976 und Chapellier hatte zwei Jahre zuvor mit seinem DixiFrog-Debüt "A Tribute To Roy Buchanan" seinen recht späten Durchbruch als französisches Pendant zu Henrik Freischlader.
DixieFrog, 15.03.2024: Fred Chapellier ist immer noch beim Blues-Vorzeigelabel seines Landes und veröffentlicht das Doppel-Livealbum "Live In Paris".
Paris, 18.03.2024 im New Morning: Fast genau 43 Jahre nach Gründung des inzwischen legendären Pariser Jazzclubs macht dort Fred Chapellier – anlässlich der Veröffentlichung seines neuesten Werkes – nicht zum ersten Mal Station und präsentiert standesgemäß gleich ein ganzes Oktett inklusive Blechgebläse.
Der Schreiberling ist mit Familie im vorösterlichen Kurzurlaub in der Stadt der Liebe, hat rein zufällig schmale 20 Gehminuten bis zum New Morning und nur wenig Ahnung, was ihn erwarten wird. Der Club ist lediglich aus dem Netz bekannt und Fred Chapellier nicht dafür, dass er in Deutschland live auftreten würde.
In Paris ist er dafür mit voller Kapelle angerückt, will heißen, dass die gesamte Stammcrew seines letzten Studioalbums Straight To The Point und des neuesten Streiches "Live In Paris" anwesend ist. Und er ist für Genre-Fans offensichtlich kein Unbekannter, denn das New Morning erfreut sich eines ausgesprochen guten Besucherandrangs, wofür bereits die lange Schlange vor dem Eingang spricht.
Drinnen präsentiert sich das Oktett in glänzender Spiellaune und schickt sich an – Nomen Est Omen – mehr oder weniger das gesamte Programm von "Live In Paris" zu Gehör zu bringen. Dabei fällt auf, dass ein spieltechnisch variantenreicher, hoch kompetenter, sehr rhythmischer Ansatz gewählt wird, der dem Dreigestirn Blues, Rock und Soul auch noch eine an dieser Stelle sehr passende Jazz-Duftnote hinzufügt. Die Rockkomponente ist nie grobschlächtig oder gar eindimensional, der Vortrag herrlich flüssig und elegant, das Ensemble hervorragend aufeinander abgestimmt und eingespielt. Die Chemie stimmt, auf der Bühne und vor der Bühne, denn das kundige Publikum ist hellauf begeistert.
Selbstverständlich steht Fred Chapellier im Mittelpunkt und beweist nachdrücklich, dass er die Saiten an diversen Gitarrenmodellen bedeutend besser beherrscht als seine Stimmbänder. Dabei gibt nicht nur ein gespieltes Flying-V-Modell Aufschluss darüber, wo Chapellier seine Sound-Signatur-Inspirationsquellen angezapft hat. Über allem schwebt eine interessante Verquickung von Albert King und Roy Buchanan, ergänzt durch Peter Green und Gary Moore in dessen Bluesphase.
Erfreulicherweise geriert er sich dabei zu keinem Zeitpunkt als 'Hochleistungssportler am Griffbrett' und weiß charmant durch den Abend zu führen. Dabei vergisst er nicht, seinen Mitstreitern immer wieder Freiräume zu schaffen, so dass diese weitere Glanzpunkte setzen können, allen voran das Gebläsetrio Michel Gaucher (Saxofon), Eric Mula (Trompete) und Pierre D' Angelo (Saxofon). Mit Christophe Garreau (Bass) und Patrick Baldran (Gitarre) arbeitet er seit 2018 zusammen, mit Schlagwerker Guillaume Destarac bereits seit 2016. Gitarrist Jérémie Tepper, der ansonsten überwiegend mit dem französischen Mundharmonika-Ass Vincent Bucher unterwegs ist, bringt mit seinem Fingerpicking-Stil nochmal andere Akzente ins farbenfrohe Gesamtbild.
Songtitel wie "Blues For Roy", "Gary’s Gone" oder "Love That Burns" (Fleetwood Mac 1968) sind selbstredend kein Zufall, ebenso die gegenseitig befruchtende Energie von Musikern und Publikum, was auch in einen ausgiebigen Zugabenteil gipfelt. Die daraus resultierende stattliche Gesamtspielzeit ist schließlich nicht nur Ausdruck dieser allumfassenden positiven Energie, sondern gleichzeitig Beleg einer hochklassig gespielten Musik, die sich alle Zeit der Welt zum Atmen und Verströmen der Aromen eines Schmelztiegels nimmt.
Fazit:
Die USA haben den Tausendsassa Joe Bonamassa, das Vereinigte Königreich darf auf die sehr erfolgreiche Joanne Shaw Taylor verweisen, Deutschland hat Henrik Freischlader hervorgebracht und der ewige Geheimtipp Fred Chapellier umweht die Trikolore. Der Schreiberling hat alle vier Genannten live erleben dürfen, die Facetten des Genres glänzten aber selten so vielschichtig wie in der Weltstadt Paris, welches daher der Historie selbiger und dem eigenen Ruf erfolgreich trotzt.
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