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Gamma Ray / 30 Years: Live Anniversary – CD/DVD-Review

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In seiner Biografie weist der in Hamburg geborene Musiker Kai Hansen (58) zwei erfolgreiche Metalbands auf, in denen er Gründungsmitglied war. Sein Werdegang wollte es, dass er sich 1984 dem Quartett Helloween anschloss. Im Meinungsstreit mit dem Management der später stark gefragten Formation gründete Hansen jedoch fünf Jahre später sein eigenes Unternehmen und nannte es Gamma Ray. Gemessen mit der Hamburger Band Helloween, der Kai Hansen als Gitarrist und dritter Sänger seit 2016 wieder zusätzlich angehört und dort mit seinen Kollegen das selbstbetitelte Album Helloween veröffentlicht hat, könnte man Gamma Ray fast zum Nischenprodukt erklären, was den Bekanntheitsgrad betrifft.
Allerdings ist diese Zurückhaltung völlig unbegründet. Auf der aktuellen Doppel-CD "Gamma Ray – 30 Years Live Anniversary", die auf einer beiliegenden DVD in gleicher Länge visuell dokumentiert wird, treten Hansen und seine Kollegen mit Bravour ihren Leistungsnachweis an.

Die Produktion ist das Ergebnis eines Livestreaming-Konzerts, das die Band am 27. August 2020 im ISS Dome in Düsseldorf gab. Das Ereignis ist mit mehreren Kameras aufgenommen worden und liegt jetzt in voller Länge vor. Anlass war der 30. Geburtstag von Gamma Ray vor über einem Jahr. An Bord hatte Kai Hansen, Bandgründer und einziges verbliebenes Gründungsmitglied, seine festen Kollegen des Quintetts sowie die beiden Gastmusiker Corvin Bahn (Keyboards) und den früheren und zugleich ersten Sänger der Band, Ralf Scheepers, der bei mehreren Titeln mitwirkte.

Mit Fug und Recht darf man das Konzert in seiner Form als außergewöhnlich bezeichnen, da es eine Konzertsituation im gewohnten Stil gar nicht gab. Doch das lassen sich Hansen und seine Mitstreiter nicht anmerken. Sie gaben sich als Profis und meisterten ihren Part mit Anstand und Spiellaune, flirteten teils mit den Kameras und agierten so, als wären Zuhörer im Saal.

Natürlich steht "Gamma Ray – 30 Years Live Anniversary" für eine weitere Best-Of-Produktion. Das geht aber in jeder Hinsicht in Ordnung. Die letzten Veröffentlichungen (2014 Studioalbum "Empire Of The Undead", 2014 Album "The Best" und 2013 EP "Master Of Confusion") liegen lange zurück. Ein bis zwei Jahre später sah sich der Bandchef veranlasst, erstmals öffentlich Bekenntnisse abzugeben, wonach er Gamma Ray nicht sterben lassen wolle.

Das aktuelle Werk legt Zeugnis ab, dass die Band nichts von ihrer beispielhaften Vitalität eingebüßt hat. Ich habe Gamma Ray bisher immer als Fleißarbeiter wahrgenommen, die nur leider oft im Schatten anderer Bands gestanden haben. Eigentlich schade. Auch hier gab es in der Vergangenheit Musikerwechsel auf verschiedenen Positionen. Doch gestalten sich diese angesichts der über 30 Jahre langen Bandhistorie vergleichsweise überschaubar. Dafür ragen die Touraktivitäten heraus, die Gamma Ray rund um den Globus gastieren ließen und die beeindruckend sind – mit einer Gastspielfrequenz, wie sie bei den Exportschlagern Helloween oder Scorpions nicht viel größer sein kann.

Auf "Gamma Ray – 30 Years Live Anniversary" hören wir abwechslungsreichen Power Metal von ausgezeichneter Qualität. Musikalisch sticht hervor, dass es im Metal auch Lieder mit längeren Piano-Passagen geben kann. Der Mann für derartige Kompositionen ist Bassist Dirk Schlächter. Gespielt wird das Instrument jedoch von Henjo Richter, zweiter Gitarrist neben Kai Hansen und seit 1997 in der Band. Seitdem ist auch ein Keyboard zu hören.
Die Vielseitigkeit von Gamma Ray äußert sich in der sehr unterschiedlichen Länge ihrer Titel. Mit "Induction" und "Dethrone Tyranny" nimmt die Reise zügig Fahrt auf und wir befinden uns gleich im Speed Metal-Tempo. "Avalon" vom bisher letzten Album "Empire Of The Undead" bietet auf über neun Minuten viele Stimmungs- und Tempowechsel. Der Satzgesang überzeugt hier und in anderen Stücken und ist ein weiteres Markenzeichen.
Die gleiche Spieldauer hat "Rebellion In Dreamland", das keine Auffälligkeiten aufweist, weil hier ’nur' Powermetal über einen anhaltend längeren Zeitpunkt zelebriert wird. Zur sprichwörtlichen Spielfreude gesellt sich die Sicherheit, mit der die Akteure das Zusammenspiel ihrer Instrumente beherrschen, als hätten sie das Genre mit erfunden. Die Gitarrenläufe erreichen bei einem Fan Mark und Ohr, wenn sich Kai Hansen und Henjo Richter zum Duell der Gitarren anfeuern.

Das musikalische Treiben lässt auf neun Minuten keine Atempause zu. Alle Stücke in ihrer Einheit gesehen, ist die musikalische Bandbreite erstaunlich. "Lust For Life" hört sich an, als gelte es einen Geschwindigkeitsrekord zu erzielen. Der druckvolle Bass mischt sich in die duellierenden Gitarren ein. Schlagzeuger Michael Ehré aktiviert alle Energie aus sich und dem Instrument.

Hymnencharakter hat das elf Minuten lange "Armageddon", das nach moderatem Beginn ab der Mitte des Stücks ordentlich Fahrt gewinnt und sich mehr und mehr zu einem eingängigen Metal-Klassiker entwickelt, wobei im letzten Drittel wieder der plötzliche Piano-Einsatz überrascht. Diese Nummer ist auf alle Fälle einer der Höhepunkte im vorliegenden Reigen. Überraschend aus dramaturgischer Sicht ist, dass auf "Armageddon" mit "Heading For Tomorrow" unmittelbar ein noch längeres Stück wartet, das im Klang der Instrumente und mit dem schleppenden Rhythmus ansatzweise an Black Sabbath erinnert, wenngleich Keyboard und der Satzgesang eigenständig für Gamma Ray stehen. Hier kommt der Gesang sogar einem Chor gleich. Das Lied überzeugt mit einer Spieldauer von 15 Minuten und ist allein schon deshalb nicht alltäglich im Metal. Das Sahnestück sind die wuchtigen Gitarren im Einklang mit Orchesterklängen gegen Ende. Metallerherz, was willst Du mehr?

Gamma Ray schaffen es, neben langen Titeln vergleichsweise kürzere gut einzubauen, wodurch die Scheibe wie aus einem Guss erscheint. Dabei sprechen wir keineswegs von Konzeptalbum. Dafür sind Power Metal und Speed Metal weniger ausgelegt. Einen würdigen Abschluss beschert uns "Send Me A Sign", wenngleich es hier nicht so hart zur Sache geht. Die vor 22 Jahren komponierte Hymne geht sofort ins Ohr. Das Lied gleicht einer Erkennungsmelodie der agilen Band. Es zündet sofort beim ersten Hören und wurde von Gamma Ray bereits in mehreren Fassungen aufgenommen. Die Musik ist einprägsam und zeitlos. Ein wichtiges Merkmal und ein Beleg, warum dieses Quintett für mich irgendwie unsterblich ist.

Zur überzeugenden musikalischen Vorstellung kommt ein Artwork, das für sich spricht. Die Verpackung der Tonträger und der DVD in der vorliegenden Fassung ist optisch für jede Sammlung ein kleines Gesamtkunstwerk.

Erhältlich ist "30 Years Live Anniversary" als Digipak mit zwei CDs und einer DVD, als 3-fach LP auf schwarzem Vinyl, Blu-ray und digital. Außerdem wird es eine limitierte 3-fach LP auf farbigem Vinyl Blu-ray geben. Jede der drei LPs wird auf eine andere Vinylfarbe gepresst.


Line-up Gamma Ray:

Kai Hansen (guitars, vocals)
Frank Beck (vocals)
Henjo Richter (guitars)
Dirk Schlächter (bass, vocals)
Michael Ehré (drums)

Guests:
Corvin Bahn (keyboards, vocals)
Ralf Scheepers (vocals)

Tracklist "30 Years: Live Anniversary"

CD 1:

  1. Induction
  2. Dethrone Tyranny
  3. New World Order
  4. Avalon
  5. Master Of Confusion
  6. Empathy
  7. Rebellion In Dreamland
  8. Land Of The Free

CD 2:

  1. Lust For Life
  2. One With The World
  3. The Silence
  4. Armageddon
  5. Heading For Tomorrow
  6. Send Me a Sign

Gesamtspielzeit: 100:00, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Mario Keim

Musikstile: Heavy Rock, Rock, Deutschrock, Hard Rock
Marios Beiträge im RockTimes-Archiv

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