
Alternative Rock aus dem Saarland, beheimatet nicht weit von unserer Chef-Redaktion, fünf Musiker, die ihr Debüt-Album abliefern und doch schon lange dabei sind – wie könnte ich da nicht zugreifen und die ersten Sekunden von "The Roof Of Trees" lassen mich wissen: Das wird mein Ding! Liegt übrigens daran, dass ich hier den Download vor der CD bespreche und mein Abspielprogramm die zweite Nummer als erstes abspielte, weil es den Titel "1000 Suns" an 11000ster Stelle des Albums wähnte.
Erstmal bin ich aber froh, dass die Band nicht GhostInfectsGhost heißt, infizieren hat man momentan nicht besonders gern im Sprachgebrauch. Aber die stimmige Metapher darauf, dass alles irgendwie alles beeinflusst, könnte man als Mantra unseres Lebens bezeichnen. Die Geister in uns und unseren Kontakten und ihre Interaktion miteinander machen uns erst zu den Menschen, die wir sind. Sozialisation eben. Und die 1000 Sonnen des Albumtitels finden wir auf dem Cover, angeordnet wie Synapsen des menschlichen Gehirns und damit irgendwie auch eine Hommage an die zumindest potentielle Großartigkeit des menschlichen Geistes mit all seinen Emotionen. Schöne Parabel auf das, was uns auf dem wirklich tollen Album erwartet.
Glasklare Gitarren und ein Gänsehaut erzeugender, sehr charismatischer und manchmal vor Leidenschaft fast überschäumender Gesang von Björn Mehler bestimmen die klangliche Landschaft. Eine hoch energetische Rhythmusfraktion donnert treibenden Dampf unter die Harmonien, großartig abgemischt zu einem kristallenen Ganzen, wo die ganze Wucht der Saiten-Einschläge nachhaltig wirkt, ohne Verkleisterung und störende Effekte. Echt und ehrlich wie das Leben selbst, ich bin mächtig beeindruckt.
Auch wenn die einzelnen Nummern weitgehend auf Tempo setzen, schaffen unsere beeinflussten Geister es immer wieder, schmissige Hooklines zu ersinnen, die bei aller Power gut ins Ohr gehen. Und die beeinflussenden Geister, um damit mal die Wurzeln und Bezüge aufzudecken, scheinen durchaus in den Neunzigern zu liegen. Hin und wieder geht mir sogar die eine oder andere Reminiszenz aus einem Jahrzehnt davor durch den Sinn, damals, als der Wave kam.
Klasse, wie auf dem Album mit Stimmungen gespielt wird. Nach dem gefühlvollen Titelsong zum Auftakt, folgen drei kernige Abräumer, dann wird eingebremst mit einer kurzen akustischen Gitarre in "Great Way" und dem super intensiven "The City Sleeps". Abwechslung pur und immer glaubhaft authentisch und unter Strom. Toller Sound und toller Song. Dass der Wahnsinn in "Lunacy" wieder deutlichere Amplituden auf der Temposkala hervorruft, liegt schon im Titel. Doch aus einem kurzen Riff-Gewitter entwickelt sich ein tief einfühlsames Break, dann gibt es wieder auf die Fresse. Ein Auf und Ab an Stimmungen und Texturen, aber immer mit Volldampf, Respekt, das nenn ich mal ein Debüt.
Das stimmungsvolle "Shelter For A Fool" zum Ende des Albums ist vielleicht mein Favorit. Weil ich selbst ein bisschen den Schutz für den Narren für mich in Anspruch nehmen möchte? Nein, diese Nummer mit ihrem melancholischen Auftakt und seinen ergreifenden Zitaten auf vergangene Epochen und Stilrichtungen nimmt mich wirklich bei der Hand. Und es liegt einfach unglaublich viel Leidenschaft in dieser Nummer, man kann sich ihr einfach nicht entziehen.
Und da ich der falsch orientierten Ordnung meines Players den Titelsong nicht als erste, sondern letzte Nummer vorgespielt bekam, möchte ich erst jetzt anmerken, dass dieser Titelsong wohl die meiste Atmosphäre vermittelt und das wunderschöne Video mit den Überblendungen über die live agierende Band, tief aus dem Herzen unserer Welt mit dem Dach herbstlicher Bäume ("Roof Of Trees" folgt ja), dem paradiesischen Strand, blühenden Lavendelfeldern und der faszinierenden Unterwasseraufnahme majestätisch kreiselnder Haie, das alles wirkt ganz tief nach. Besonders, wenn am Ende über der Textzeile »forgive us, what have we done« eine Mond-ähnliche Kraterlandschaft erscheint und der Song abrupt abbricht. Da wir schon im Bandnamen und im Cover auf Metaphern gestoßen sind, wirken dieser Hinweis und die Mahnung an uns alle, mit unserem Planeten sorgsam umzugehen, natürlich ganz besonders nach. Ganz nebenbei weckt diese Nummer im Auftakt ein paar Assoziationen an Frees "Be My Friend", eine meiner Lieblings-Oldies.
Gut, dass Rockmusik Position bezieht, bevor wir den Generationen nach uns eine zerstörte Umwelt und apokalyptische Zukunftsvisionen hinterlassen werden. Allein, bei der Gemengelage aus skrupellosen geldgeilen Wirtschaftsbonzen und ihren Polit-Vasallen hab ich da nicht sehr viel Hoffnung.
GhostAffectsGhost aber sind Hoffnungsträger, eine wirklich überzeugende Band am Himmel des Alternative Rock, die für die Zukunft eine echte Hausnummer darstellen könnte. Ein mitreißendes, sehr stimmiges Konzept, hervorragend inszeniert, da wird ganz sicher noch viel mehr kommen. Durch die zeitlosen Kompositionen und dem hochgradigen energetischen Level kann man diese Band jedem Rockfreund mit sehr gutem Gewissen empfehlen. Kauft, Leute und unterstützt gerade diejenigen, die durch fragwürdige Entscheidungen immer weiter aus dem Alltag gerissen werden. Und während Künstler und Veranstalter um ihre Existenzen bangen, Gastronomen sich fragen, wieso sie im Sommer in ausgezeichnet funktionierende Hygienekonzepte investiert haben, machen Schlachthöfe und Industrie genau das, was sie immer schon gemacht haben.
Ein »weiter so« gehört endlich und in vielerlei Hinsicht (siehe eben auch die Umwelt) auf die Müllhalde der Zeitgeschichte – und das ist wirklich alternativlos.
Line-up GhostAffectsGhost:
Björn Mehler (vocals)
Volker Gros (guitars)
Markus Steinbrecher (guitars)
Dirk Schmidt (bass)
Marc Spies (drums)
Tracklist "1000 Suns":
- 1000 Suns
- The Roof Of Trees
- Dropout
- Burning Paradise
- Great Way
- The City Sleeps
- Lunacy
- Mad Parade
- Shelter For A Fool
- Turnstile
- Sad Bones
Gesamtspielzeit: 40:28, Erscheinungsjahr: 2020
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