Das Booklet zu Glass Hammers neuestem Werk "Dreaming City" informiert: »Das Album ist inspiriert vom Buch "Skallagrim And The Dreaming City – Book One Of the The Terminus Chronicles", einer klassischen Abenteuergeschichte.«
Klingt ein wenig nach dem Prinzip der Neal Morse Band, die in den letzten Jahren ihre famose Musik aus einem traditionellen Buch-Klassiker ableitete. Dazu passt auch die Parallele, dass Glass Hammer hier erstmals mit einer halben Armada von Sängern antritt. Doch die Suche nach dem genannten Buch entpuppt sich als Hoax, wenn ich es richtig verstanden habe, denn die beschriebene Heldensaga existiert quasi nur in diesem Album. Und auch in der Musik lassen sich keine Verwandtschaften mit Neal herausfiltern – oder etwa doch?
"Dreaming City" hält einige Überraschungen für uns bereit. Hat man Glass Hammer ansonsten tief in den Weiten des Neo-Prog verortet und stets eine deutliche Affinität zu Yes angemahnt, finden wir uns bereits im Titelsong in einer völlig neuen Ausdrucksform progressiver Gefilde wieder, die man bei der Band bislang vergeblich suchte. Die Komposition hat einen deutlich vernehmbaren Ruck in Richtung härterer Musik erfahren – und was soll ich sagen, es tut ihr sehr gut. Diese Entwicklung und der aggressivere Touch erinnert mich an den Kurswechsel, den einst Pendragon mit ihrem Album Pure vornahmen.
Die krachenden Riffs und die tempobeschleunigten Drums verleihen der träumenden Stadt einen harten und heftigen Anstrich. Vergleiche zu Rush wurden bereits zitiert, die Platte ist ja seit Mitte April auf dem Markt. Teilweise streift der Song schon metallene Grenzbereiche. Vor diesem fetzigen und deutlich Saiten-lastigen Hintergrund entwickelt sich die klassische Orgel besonders erdig und ausdrucksstark. Das groovt cool und geht nahtlos in "Cold Star" über. Diese beiden Nummern, letztere sehr stimmungsvoll durch Einsatz einer klassischen Flöte aufbereitet und dann doch überraschend ein wenig bei den sanfteren Kompositionen von Neal Morse zuhause, bilden einen Schwerpunkt des Albums, das sich dann erst zum Ende hin wieder aufschwingt zu einem großen Finale. Dieser Spannungsbogen bezieht sich aber auf die Intensität und Aggressivität der Musik und keinesfalls auf die Qualität. Denn wer glaubt, nun schon den Schlüssel fürs Album gefunden zu haben, der wird ein weiteres mal überrascht. Im Mittelteil der Geschichte nimmt die Musik eine Wendung zu stilistischen Wurzeln, die man hier bei uns gut kennt. Scheinbar haben sich Steve Babb und Fred Schendel in der Berliner Szene vergangener Tage umgeschaut.
Schon die pulsierenden Keyboards in "Terminus" spielen auf Klassiker der elektronischen Musik an, und diese Bezüge werden später noch viel deutlicher. Glass Hammer go Krautrock – wow.
In diesem Teil des Albums sind die Nummern viel kürzer, erfüllen teilweise nur die Aufgabe elektronischer Zwischenspiele und Übergänge wie in "The Lurker Beneath". Hier klingt es wirklich wie einst bei Ashra oder Tangerine Dream, das hatte ich nicht erwartet.
"Pagarna" scheint sich Steve Babb selbst auf den Leib geschrieben zu haben, so schön mäandert hier sein prägender Bass. Der Song entwickelt eine schöne eingängige Dynamik und kulminiert in einem leicht bluesig treibenden Gitarrensolo.
Spätestens jetzt aber wird die Büchse der Elektronik-Musik geöffnet. Loop-artig pulsierende, sich überlagernde, sanfte Tastenklänge werden in "At The Threshold Of Dreams" von einem Sprechgesang geleitet, der weit im Hintergrund mit der Musik zu verschmelzen scheint. Selbst die Musik von Eberhard Schoener kann hier als Referenz herangezogen werden. "Video Magic" hieß das Album damals, 1978.
Von hier an hängt das Album dann aber doch ein ganz klein wenig durch, auch wenn die mitreißende Stimme von Susie Bodanowicz in "October Ballad" den Song rettet. Neuerlich wabernde Keyboards, inzwischen zum dritten mal bemüht, nutzen sich in diesem Moment allmählich ab, auch wenn die Gitarre letztlich schöne Kontrapunkte setzt und abermals Ehrenrettung betreibt. Nach dem für meinen Geschmack ein wenig belanglosen "A Desperate Man" nimmt die "Dreaming City" endlich wieder Fahrt auf und die satte Eröffnung in "The Key" holt alle Zuhörer wieder ins Boot zurück. Die vokalen Hooklines treffen ins Schwarze und die geile Orgel setzt wohlige Akzente, Jon Lord wird auf seiner Wolke mit Freuden zugehört haben. Die Flöten-Passagen beschwören Jethro Tull herauf, auch ein bisschen Thijs van Leer klingt mit an, der ja schon vor fünfzig Jahren Focus mit solchen Klängen angetrieben hat. Insgesamt eine geile Sache – guter Groove, starker kompakter Sound ohne jedes Geprotze.
Wir bleiben in etwa im Tempo und freuen uns auf das Finale in "Watchman On The Walls", mit mehr als elf Minuten der längste Track auf dem Album. Hier scheinen dann doch endlich ein paar Yes-ähnliche Passagen durch, das ist nicht mehr als Recht. Das schöne Break mit der sanften Gitarre könnte sogar Bezüge zu den frühen Genesis über sich ergehen lassen, doch dann bauen Saiten und Tasten wechselseitig Spannung auf und man glaubt, jetzt geht die Luzi ab. Aber das ist die letzte Finte, eine Überraschung hält Glass Hammer für uns noch bereit und bricht das Stück mittendrin ab, um in einer äußerst zurückgenommene Reflexion mit sphärischen Hintergrundklängen plötzlich einen ganz anderen Duktus zu pflegen. Fast wie ein eigener Song. Über einer rhythmischen Spielerei entwickelt sich eine eingängig rockige Gitarre, nun spielt man noch einmal mit wechselnden Tempi und Stimmungen. Für meinen Geschmack ein bisschen zu viel, denn am Ende geht mir der rote Faden ein wenig verloren. Doch das abschließende Gitarrensolo bringt alles wieder ins Lot.
Glass Hammer haben mit ihrem neuesten Album, dem inzwischen achtzehnten, wenn ich es richtig gecheckt habe, eine erstaunliche Veränderung hingelegt, die ich nicht erwartet hätte. Bezüge zu völlig anderen Inspirationen – und damit meine ich nicht das vermeintlich fiktive Buch – verleihen ihren Kompositionen ungeahnte Kraft und Dynamik, auch wenn nicht alle Ausflüge in die Welten der Musik gleich gut gelungen sind. In der Tat gibt es in der zweiten Hälfte ein paar Längen, doch insgesamt darf man "Dreaming City" als ein gelungenes und ausgesprochen vielseitige Album bewerten.
Line-up Glass Hammer:
Steve Babb (bass, keyboards, vocals)
Fred Schendel (keyboards, guitar, backing vocals)
Aaron Raulston (drums)
Reese Boyd (guitar, vocals)
John Beagley (vocals)
Brian Brewer (guitar)
Susie Bodanowicz (vocals)
Joe Logan (vocals)
Special Guests:
James Byron Schoen (guitar – #11)
Barry Seroff (flute)
Tracklist "Dreaming City":
- The Dreaming City
- Cold Star
- Terminus
- The Lurker Beneath
- Pagarna
- At The Threshold Of Dreams
- This Lonely World
- October Ballad
- The Tower
- A Desperate Man
- The Key
- The Watchman On The Walls
Gesamtspielzeit: 62:22, Erscheinungsjahr: 2020
Neueste Kommentare