Wie schon an anderer Stelle in diesem Magazin beschrieben, beschloss die Hagener Band Grobschnitt nach der Veröffentlichung der Platte Solar Music Live (1978) eine neue musikalische Richtung einzuschlagen. Dies wurde in kleineren (Merry-Go-Round, 1979) und größeren (Illegal, 1981) Schritten dann auch umgesetzt, aber ein ganz klarer und radikaler Schnitt folgte dann erst mit dem original im Jahr 1982 veröffentlichten Album "Razzia". Die Band hatte sich ganz bewusst dazu entschieden, die Texte mit deutschen Lyrics zu versehen. Noch sozialkritischer sollte es zugehen, wenn auch nicht bei jedem einzelnen Song. Dazu kam, dass sich Grobschnitt kurz nach Beginn der Produktion von "Razzia" aus persönlichen Gründen von ihrem Keyboarder Mist getrennt hatten. Musikalisch ganz sicher ein herber Verlust, aber offensichtlich gab es da zwischenmenschliche Differenzen, die einfach nicht mehr zu beheben waren. Für die Studioaufnahmen wurden die Tracks zunächst ohne die Tasten eingespielt, die dann im Nachgang von Drummer Eroc hinzugefügt wurden.
Die Stimmung und vor allem die Texte dieser Scheibe muss man natürlich unbedingt im Kontext der damaligen Zeit sehen. Da aber auch musikalisch eine eindeutige Abkehr des bisher gepflegten Sounds vollzogen wurde, musste sich die Band nach der Veröffentlichung einige Kritik von langjährigen Fans (unter anderem dem Vorwurf, die Fahne im Wind der gerade aktuellen Neuen Deutschen Welle wehen zu lassen) gefallen lassen. So geht es hier wesentlich moderner und weniger von der Gitarre geprägt zur Sache. "Wir wollen sterben" wird beispielsweise zu Keyboard-Klängen in kirchenmäßigem Gesang intoniert. Rockiger geht es dagegen bei "Remscheid" sowie dem (wohl autobiografischen) Titelsong zur Sache. Und nein, mit der NDW hat das tatsächlich nicht viel bis gar nichts zu tun, weder von den Texten, noch von der zugegebenermaßen ungewohnten stilistischen Auslegung. Die Band ließ textlich jede Menge Dampf ab, ob dies nun umweltpolitische Themen, die Abrechnung mit einem alten Freund oder auch was das Vorgehen der Staatsgewalt betraf. Und da ist immer noch jede Menge Power im Spiel.
Seite 2 des Vinyls enthält mit "Wir wollen leben" das Gegenstück zur Eröffnungsnummer. Inhaltlich geht es um dasselbe Thema, jedoch ist die Auslegung und der Blick in die nähere Zukunft hier deutlich optimistischer bzw. positiver. "Schweine im Weltall" ist ganz sicher Geschmackssache, während sich das gute "Poona Express" mit den Erfahrungen Milla Kapolkes und einer Bekanntschaft aus der damaligen Baghwan-Bewegung auseinandersetzt. Auf der Original-LP aus dem Jahr 1982 nicht enthalten, wurde dieser neuen Ausgabe das Instrumental-Stück "Sweetwater River" hinzugefügt, das es damals aus mehreren Gründen nicht auf das Werk geschafft hatte. Ein feiner Track, der zum Augenschließen und genießen einlädt, getragen von Akustik-Gitarren und solistisch von den Keyboards verfeinert. Ein wunderschöner Abschluss.
Im krassen Gegensatz zu den sehr durchwachsenen Plattenkritiken wurden die Konzerte der Band nach wie vor sehr gut besucht und auch abgefeiert, was man auf dem weißen Vinyl (sprich den Seiten 3 und 4 dieser Doppel-LP) auch wunderbar nachvollziehen kann. Neben drei Titeln des Studioalbums finden wir hier die Live-Intros der Tourneen von 1981 sowie 1983, ein Medley und zwei weitere Live-Versionen der "Illegal"-Stücke "Mary Green" sowie "Silent Movie". Selbstverständlich gibt es auch bei diesem Album als Bonus großzügige Inlays sowie den Download-Code.
Das Hauptproblem war/ist damals wie heute, dass man "Razzia" nicht unbedingt mit den vorherigen Veröffentlichungen von Grobschnitt vergleichen, sondern völlig unvoreingenommen anhören sollte. Interessant dabei ist die Tatsache, dass einige der Texte heute noch genauso aktuell sind wie damals. Die Scheibe mag nicht ganz so stark wie der Vorgänger "Illegal" oder andere Alben der Band-Vergangenheit sein, zeigt jedoch einen radikalen Umbruch und verfügt mit beispielsweise "Remscheid", dem Titelsong, "Poona Express" sowie "Sweetwater River" nach wie vor über starke Songs. Das Album "Razzia" ist anders, allerdings auch viel besser als sein nach wie vor angekratzter Ruf.
Line-up Grobschnitt:
Eroc (drums, keyboards, electronic effects)
Lupo (acoustic & lead guitars)
Milla Kapolke (bass, acoustic guitar, additional vocals)
Wildschwein (acoustic & rhythm guitars, lead vocals)
Toni Moff Mollo (percussion, lead vocals)
Mit:
Mist (keyboards – #C-1)
J.R. Krämer (keyboards – #C-2-4, D-1-4)
Tracklist "Razzia":
- Wir wollen sterben
- Remscheid
- Razzia
- Der alte Freund
Side 2:
- Schweine im Weltall
- Poona Express
- Wir wollen leben
- Sweetwater River
- Live Intro (Tour 1983)
- Razzia
- Mary Green
- Poona Express
Side 4:
- Live Intro (Tour 1981)
- Silent Movie
- Medley
- Wir wollen leben
Gesamtspielzeit: 21:09 (Side 1), 18:51 (Side 2), 25:04 (Side 3), 25:08 (Side 4), Erscheinungsjahr: 2018 (1982)
2 Kommentare
Michael Schwarz
4. Mai 2022 um 16:41 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo und Grüße aus Lünen.
Ich habe eine Frage.
Da ich kein Vinyl abspielen kann, habe ich auch die Razzia Black & White 2LP nicht.
Ist das Lied „Sweetwater River“ von dieser Vinyl-LP identisch mit der Version „Sweetwater“ von der DoCD „Die Grobschnitt Story 1“?
Mit freundlichen Grüßen
Michael Schwarz
Markus Kerren
4. Mai 2022 um 17:01 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hey Michael,
die Doppel-CD "Die Grobschnitt Story 1" habe und kenne ich leider nicht, kann deine Frage deshalb leider nicht beantworten.
Vielleicht ein anderer Redakteur oder Leser?
Grüße,
Markus