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Grobschnitt / Solar Movie – DVD/CD/LP-Review

Ja ist denn heut' schon Weihnachten? Wenn ich mir die Solar Movie-Box von Grobschnitt endlich zur Hand nehme, dann leg ich Ostern noch gleich mit drauf. Das Werk kommt so kurz vor den Feiertagen wahrlich zum rechten Zeitpunkt, die immer noch ganz vielen, alten Grobschnitt-Fans werden schon feuchte Hände bekommen haben. Endlich eine gute Gelegenheit, das Weihnachtsgeld sinnvoll anzulegen.

Die "Solar Movie"-Box erfüllt eine ganze Reihe von Attributen und Funktionen. Sie treibt der Fangemeinde angesichts nostalgischer Erinnerungen die Freudentränen in die Augen und bietet interessierten Musikfreunden faszinierende Aspekte großartiger Live-Musik und künstlerischer Verarbeitung. Vor allem aber bietet sie auch ein Paradebeispiel dafür, wie man aus alten Live-Konserven herausragende, hoch aktuell klingende Konzertfilme und -platten produzieren kann. Und vielleicht sogar als Krönung des gesamten Werkes gibt es den kunstvoll untermalten Konzertmitschnitt von "Solar Music" aus dem Quartier Latin in Berlin, ein optisches und akustisches Monument, das zu einem völlig neuartigen Gesamtkunstwerk verschmilzt. Da werden die Macher von vier Minuten Musikvideos erblassen.

Grobschnitt waren zu ihrer aktivsten Zeit berühmt für grandiose Live-Spektakel, aber auch für ihren guten Sound, der den teilweise sehr komplexen Werken natürlich gut zu Gesicht stand. Vor allem aber gab es, wo immer die Jungs aus Hagen eine Bühne enterten, eine Menge Spaß, und zwar auf und vor den Brettern der Welt. 1978 waren sie besonders aktiv, tourten ohne Unterlass. "Rockpommels Land" war ein Jahr zuvor erschienen und das "Merry Go Round"-Album befand sich bereits in der Entstehung, als ein Traum für die Bandmitglieder (und sicher auch viele Fans) wahr wurde. Peter Rüchel bat zum Tanz in den Rockpalast. Problem nur, dass der Auftritt inmitten eines Festivals von statten gehen sollte, was die Spieldauer für die Band leider auf ein Minimum reduzieren würde. Das und einige andere Imponderabilien ranken sich um das Konzert, die sollen hier aber nicht weiter verfolgt werden. Am Ende spielten Sie "Vater Schmidt’s Wandertag" (mit der so anlassbezogen treffenden Eröffnungszeile » Heut ist ein schöner Tag…« ), "Come On People", ein Vorgriff auf das neue Album – und natürlich das psychedelische Meisterwerk "Solar Music". Die sehr zahlreich von Hagen nach Essen herüber gekommenen Fans feierten ihre Band frenetisch, eine Zugabe war den Jungs jedoch nicht gegönnt, hatten sie doch eh schon den Fahrplan für ihren Gig sauber überschritten. Was bei Gottschalk normal war, nahm man Grobschnitt damals noch richtig übel. So ungerecht ist die Welt.

Wenig später wählten die Fernsehzuschauer, die das Konzert etwa drei Wochen nach der Aufzeichnung in der Glotze verfolgen konnten, Grobschnitt zur Rockpalast-Band des Jahres. Einem Jahr, in dem beispielsweise Dickey Betts, Ten Years After und Peter Gabriel dort spielten, obwohl ich nicht weiß, ob die Teilnehmer der Rockpalast-Nächte damals auch zur Wahl standen. Aber laut Info im Booklet gab es auf jeden Fall und beispielhaft auch Konkurrenz der Marke Rainbow. Da kann man nur eins sagen: Respekt.

Verdient war das allemal. Wenn man hineinhört in das unfassbare Epos "Solar Music", dann beeindrucken uns noch heute diese gigantischen Gitarrenschlachten neben dem einzigartig entspannt wirkenden Mist in mitten seiner monströsen Keyboard-Türme. Man spürt diesen aggressiv vorwärts stürmenden Duktus, den die Band aus der Gesamtsituation zwischen überzogenem Soundcheck, Frust über verkürzte Spielzeiten, nicht als adäquat empfundene Technik und drängelnden Verantwortlichen zu einem fulminanten Meisterwerk entwickelt. Voll von Adrenalin, Spielfreude und Liebe zu den so zahlreich angereisten Fans. Nur eines finden wir nicht, Lampenfieber oder Angst vor der großen Bühne Rockpalast. Dabei hat mir vor ein paar Jahren mal ein guter Freund erzählt, wie es ihm ergangen ist, als er mit seiner Band auf den gleichen Brettern stand. »Als wir all die Scheinwerfer und Kameras um uns herum wahrnahmen, als wir uns bewusst wurden, dass wir auf der Bühne des Rockpalasts stehen, ehrlich, da haben wir uns beinahe in die Hosen geschissen«. So unterschiedlich kann das empfunden werden und es zeigt uns auf drastische Weise, mit welcher Klasse die Jungs von Grobschnitt damals den Traum ihres Musiker-Daseins meisterten. Angestachelt von den eigenen Ambitionen, dem Glauben ans eigene Können und eben der ungebremsten Unterstützung durch die Fans, das hat nicht nur Bäume versetzt, es hat den Rockpalast gerockt.

Dass wir diesen einzigartigen Abend heute in erstaunlich guter Bild- und geradezu fantastischer Tonqualität erleben dürfen, ist dem enthusiastischen und liebevollen Einsatz und dem Sachverstand der Musiker zu verdanken, die in akribischer Arbeit die Bild- und Tondokumente von störenden Einflüssen befreiten. Eroc (Joachim Ehrig), der legendäre Schlagmann und Sound-Tüftler, hat es mit seinen Band-Kumpels Lupo (Gerd-Otto Kühn) und Wildschwein (Stefan Danielak) irgendwie geschafft, aus dem ursprünglich in Mono ausgestrahlten Tonsignal mehr oder weniger Stereosound zu zaubern. Und eben vieles mehr. Was da aus den Lautsprecherboxen über uns kommt, lässt einen fast vor Ehrfurcht erstarren. Das alles stammt originär aus einer Fernsehaufzeichnung von 1978? Man mag es kaum glauben und die Produktion von Glückshormonen erreicht neue Höchstwerte.

Werfen wir einen Blick auf die enthaltenen Medien. Die Solar Music-Box versorgt uns mit bewegten Bildern auf der DVD, bringt zwei Grobschnitt-typisch auf eine Belegung von 79:10 getrimmte CDs und zwei Vinyl-Scheiben. Auf dem Silberling Nummer 2 findet sich im Prinzip sogar ein neues Stück, auch wenn "Solar Conclusion" im Grunde nichts anderes darstellt als eine Meditation auf das Eingangsthema in den Part 2 der Solar Music. Zurückblickend, die ganze Nostalgie des legendären Stücks noch einmal einfangend – vor allem aber auch als ein wunderschöner Ausklang aus dem Solar Movie, später auf der DVD. Das klingt fast ein wenig nach Eddie Van Halens grandiosem Drift aus dem Tornado-Blockbuster Twister.

So ist der Rockpalast-Auftritt der Band eben nur ein Bestandteil der Gesamt-Box, da wartet noch ein ganz anderes, hochgradig spannendes Erlebnis auf uns. Der schottische Künstler John McGeoch wurde nämlich beauftragt, Solar Music mit einem Bildkonzept zu hinterlegen. Als Grundlage hierzu dient im Übrigen nicht die Version aus dem Rockpalast, sondern die Interpretation vom Konzert in Berlin aus dem gleichen Jahr. Wer Grobschnitt kennt, der weiß, dass dieses Mammutwerk niemals gleich klang, dass immer wieder andere, neue Wege durch die Welt der Sonne führten.

Wenn ich mir diese Version von "Solar Music" gebe, dann glaube ich einen Tick weniger Getriebenheit herauszuhören, scheint sie mir ein bisschen mehr relaxt, was Erocs faszinierende Rhythmusspielereien und die Solo-Instrumente ein Stück weit nuancenhafter rüberkommen lässt, wofür die fast fuzzig anarchische Gitarrenpower der Rockpalast-Version nicht so ausgeprägt ist. Das gibt beiden Varianten einen gleichberechtigten Platz in der Sammlung.

Das, was John McGeoch aus diesem Auftrag in etwa sechs monatiger Arbeit zustande gebracht hat, darf getrost als eine Sensation bezeichnet werden. Ein Sinnesrausch aus Formen und Farben und Bewegungen, eine surreale Welt und ein psychedelischer Trip führt uns durch die nicht minder bunte Klangwelt des großen Klassikers. Der Künstler verwendet grob flächige Hintergrundbilder genauso wie filigrane Gemälde, setzt stilisierte, mechanische Figuren ähnlich den klassischen Strichmännchen ein, die in ihrer Form fast ein wenig den Schwebeteilchen im menschlichen Auge zu ähneln scheinen. Sogar der kleine Hund, den wir im ersten Teil der "Solar Music" im Hintergrund stets bellen hörten, begleitet uns auf diesem Trip durch ein faszinierendes Paradies. Bilder verschmelzen oder driften auseinander, bleiben in Bewegung. Ganz wie die Musik, die in ausufernden Improvisationen treibt und fließt. Hier und da sind die Schatten realer Tänzer in die Szenen eingeflochten, stark verfremdet und nur schemenhaft.

Und wenn nach diesem Parforceritt die ruhig reflektierende Schluss-Sequenz erreicht wird und die farbigen Pyramiden aus dem Boden wachsen, wenn sich am Ende das Strich-Männchen und sein Strich-Weibchen nebst Hündchen glücklich vereint bei den Händen fassen, dann jagt mir die Gänsehaut den Nacken hoch bis ins Hirn. Meine Herren, was für eine geile Band, was für ein irres Spektakel. Am Ende bin ich glücklich. Glücklich über dieses Erlebnis und glücklich in der Erinnerung, dass mich Grobschnitt schon seit meinen Jugendtagen begleitet haben.

Das umfangreiche Booklet mit vielen, spannenden Bildern aus der Nacht des Rockpalast-Konzerts und den intensiven Beschreibungen der Protagonisten über die Aufregungen vor und während der Rockpalast-Veranstaltung und der Monster-Tour 1978 im Allgemeinen, die Ausschnitte mit einigen Bildern von John McGeoch aus dem "Solar Movie" runden das Gesamtpaket trefflich ab und umschließen ein historisches Dokument deutscher Musik. Gerade hier bleibt auch ein Moment für wehmütiges Innehalten, wird einem beim Betrachten der Bilder doch auch bewusst, dass die Kapelle Grobschnitt längst schon nicht mehr vollständig ist. Keyboarder Mist (Volker Kahrs) und Bass-Mann Hunter (Wolfgang Jäger) spielen schon seit ein paar Jahren in einer himmlischen Combo, die in diesem Jahr so erschreckend viel Zuwachs erhalten hat.

Grobschnitt haben mit dieser Box nicht nur zahllosen, langjährigen Fans eine unbeschreibliche Freude gemacht. Sie haben ein historisch wertvolles Relikt zeitgenössischer Deutscher Rockmusik geschaffen, ein Denkmal, ein Vermächtnis. Nicht nur ihrer eigenen Bandgeschichte, sondern des Krautrocks ganz allgemein. Unser kleiner Nachbar ist nun gerade zwei Monate alt geworden und ich habe seinen Eltern versprochen, irgendwann mal einen echten Rockfan aus ihm zu machen. Wenn er dann eines Tages fragen wird, wie das denn war, damals mit der Rockmusik im eigenen Land, dann werden wir uns gemeinsam Grobschnitt anschauen. Sagen muss ich dazu nichts, denn die Musik wird für mich sprechen und die Bilder ihre Wirkung nicht verfehlen. In vielerlei Hinsicht kann man "Solar Movie" als einen Höhepunkt unserer Lieblingskultur betrachten, und es ist verdammt gut, dass dieses zeitlose Kunstwerk auf ewig erhalten bleiben wird – auf Plattentellern, in Playern und in unseren Herzen.


Line-up Grobschnitt:

Eroc (drums, electronic effects)
Lupo (lead guitar, chorus)
Mist (keyboards, chorus)
Hunter (bass)
Wildschwein (guitar, vocals)
Toni Moff Mollo (light design, show-effects)


Tracklist Solar Movie:

CD 1

  1. Rockpalast Theme
  2. Solar Transcendence
  3. Vater Schmidt’s Wandertag
  4. Come On People
  5. Solar Music Rockpalast Pt. 1
  6. Solar Music Rockpalast Pt. 2
  7. Solar Music Rockpalast Pt. 3
  8. Solar Music Rockpalast Pt. 4
  9. Solar Music Rockpalast Pt. 5
  10. Solar Music Rockpalast Pt. 6

CD 2

  1. Solar Music Berlin Pt. 1
  2. Solar Music Berlin Pt. 2
  3. Solar Music Berlin Pt. 3
  4. Solar Music Berlin Pt. 4
  5. Solar Music Berlin Pt. 5
  6. Solar Music Berlin Pt. 6
  7. Finale Wesel
  8. Solar Conclusion

DVD

  1. Rockpalast 1978
  2. Solar Movie 2016


LP 1 Side 1

  1. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 1)
  2. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 2)
  3. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 3)

LP 1 Side 2

  1. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 4)
  2. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 5)
  3. Solar Music
    (Rockpalast, Pt. 6)

LP 2 Side 1

  1. Solar Music
    (Berlin, Pt. 1)
  2. Solar Music
    (Berlin, Pt. 2)
  3. Solar Music
    (Berlin, Pt. 3)

LP 2 Side 2

  1. Solar Music
    (Berlin, Pt. 4)
  2. Solar Music
    (Berlin, Pt. 5)
  3. Solar Music
    (Berlin, Pt. 6)


Gesamtspielzeit: 141:00 (DVD), 79:10 (CD 1), 79:10 (CD 2)
27:18 (LP 1 Side 1), 27:18 (LP 1 Side 2), 26:31 (LP 2 Side 1 ), 25:37 (LP 2 Side 1)
Erscheinungsjahr: 2016

 

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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