»Am 9.2. erscheinen historische Aufnahmen von Günter Schickert und mir auf Vinyl«. Das schrieb mir Udo Erdenreich vor einigen Tagen und wer RockTimes liest und/oder sich mit deutschen Musikern auskennt, kommt schnell auf Ziguri und Tura Ya Moya. Aber die beiden Musiker sind Menschen, über die es sich lohnt, mehr zu lesen. Einfach mal Herrn Google bemühen und da gibt es dann einiges zu erfahren.
Erfahren habe ich von Udo auch, dass Günter einen Schlaganfall hatte und seine Gitarrensaiten wohl nicht mehr schwingen lassen kann. Nun ja, vielleicht mag der eine oder die andere mit mir daran glauben, dass medizinische Diagnosen auch schon mal umgeworfen wurden.
Die Stücke auf "Schickreich" sind bis dato unveröffentlicht und erscheinen auf streng limitiertem Vinyl (150 Exemplare) sowie digital am 9. Februar. Die Platte beherbergt einen Einleger mit einem Text von Michael Leuffen sowie Fotocollagen von Laura Lot und besteht aus drei Stücken aus den Jahren 1988 und 2008, Für den bestmöglichen Klang sorgte Meister EROC.
Auf Seite 1 hören wir "Die Zukunft ist der Kindern und Narren" – fast eine halbe Stunde Berlin Kreuzberg live. Aufgenommen wurde das Dokument am Ostersonntag 1988 im Freien am U-Bahnhof Görlitzer Straße, einem Ort mit dem Namen 'Das Arschloch', an dem Konzerte, Happenings und allerlei andere Veranstaltungen unter dem Motto »Umsonst und Draußen« stattfanden.
Udo und Günter wurden bei ihrer improvisierten Show von der damaligen Underground Kulturbeauftragen Uschi Schröder, einer Freundin des Duos, mit einem Kassettenrekorder aufgenommen. Nebenan schrie jemand von einer Selbsthilfegruppe für physisch Kranke ins Megafon, Leute redeten, schimpften, Kindergeschrei ist auf der Aufnahme und musikalisch zelebrierten Udo und Günter eine Art Konzert des prallen, anarchischen, lauten Lebens in einem ganz speziellen Großstadtviertel. Harmonie ist anders und so Sachen wie Strophe, Refrain, Bridge und Hookline sind so weit von des Hörers Ohren entfernt, wie das idyllische Landleben vom Metropolen-Moloch.
Faszinierend ist dieses Stück Ambient-Underground aber trotzdem oder gerade deshalb weil es zeigt, was musikalisch alles möglich ist, wenn was Umfeld passt. Das ist deutscher Underground und im Prinzip auch ein musikhistorisches Zeugnis aus unserem Land. Üblichen Songaufbau darf man wie bereits angedeutet nicht erwarten, denn dazu wabert und 'geräuscht' es doch sehr intensiv und der Mann (Mirko) am Megafon ein paar Meter weiter hält sich auch nicht an die sowieso nicht vorhandene Choreografie. Was allerdings konstant, fast hypnotisch und stoisch vor sich hin brabbelt, ist der Bass. Man hat das Gefühl, als ahme er den Herzschlag der Stadt nach. Von Ruhe- bis hin zu anaerobem Zustand wird dabei alles abgedeckt.
Seite 2 des Albums wurde ebenfalls in Berlin live aufgenommen, allerdings 20 Jahre später im Sputnik Kino bei einer audiovisuellen Veranstaltung zur Filmreihe "Tibet Rediscovered", einer Serie über die Kultur Tibets. "Kang Ringpoche" und "Mapam Yu Tso": ein heiliger Berg und ein heiliger See der Tibeter und bei den ersten Takten wird klar, dass wir auf einer musikalischen Reise sind. Sofort ist auch klar, dass die Reise in Asien stattfindet. Da ist zum einen das Instrumentarium, dann die relaxte, entspannende Atmosphäre; zeitlose und meditative Harmoniewellen durchströmen den Raum und obwohl Tibet politisch ein Teil Chinas ist, spürt man, dass da ganz andere Mächte auf dem heiligen Berg zugegen sind, als es einem Parteiapparat vielleicht recht ist. Und man spürt auch, dass das lärmende Kreuzberg dagegen nicht anstinken kann.
Ist man vom Berg runter, weist die Maultrommel den Weg in den heiligen See "Mapam Yu Tso". Das Klischee von Räucherstäbchen und meditierenden Mönchen hoch oben in den Bergen schiebt sich vor das geistige Auge und tranceartig kräuseln sich zarte Wellen im 4500 Meter hoch liegenden Gewässer. Ruhe pur und Musik die therapeutische Wirkung haben kann, so man sich auf sie einlässt. Selten habe ich eine Platte gehört, deren Seiten sich so extrem unterscheiden, was natürlich an den Musikern liegt, denn deren Handwerksbeherrschung macht so etwas erst möglich.
Wow, nach der ersten Seite dachte ich, dass dieses Album wohl eher selten die Membranen der Lautsprecher malträtiert, aber nun, nach der zweiten Seite werden die Membranen wohl doch ab und an liebkost, denn der musikalische Ausflug in den Buddhismus bringt ein klares Ergebnis:
Berlin Kreuzberg 0
Tibet 2
Und für Günter drücken wir bitte alle die Daumen.
Line-up Schickreich:
- Seite 1:
Guenter Schickert (guitar)
Udo Erdenreich (bass)
Mirko Olostiak (megaphone)
- Seite 2:
Guenter Schickert (nail horn, guitar)
Udo Erdenreich (hurdy gurdy, bell, jaw harp, percussion)
Tracklist "Schickreich":
- Die Zukunft ist der Kindern und Narren (26:46)
- Kang Ringpoche (15:59)
- Mapam Yu Tso (8:45)
Erscheinungsjahr: 2024 (1988, 2008), Gesamtspielzeit: 51:30
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