Ein Erlebnisbericht über Hardcore-Camping und dem Triumph stimmlicher Female-Power über Grimassen schneidende Saitenhelden
Prolog:
Camping im April … ist das etwas für Warmduscher oder Spontantouristen im Saharanebel des Klimawandels?
Livemusik mit echten Instrumenten, ohne Show, Netz und doppelten Boden, mit viel E-Gitarre, verzerrten Gesichtern, langen Soli und sogar Hammond B3-Klängen … ist das nur etwas für rettungslose Nostalgiker mit Hang zur Luftgitarre vorm Wohlstandsbauch?
Diesen Fragen wollen drei Musiknerds und Konzertveteranen aus Oldenburg (i.O.) und Bremen nicht zum ersten Mal auf den Grund gehen und haben dabei zielgerichtet den ganz hohen Norden mit dem musikalischsten ehemaligen Heuboden Deutschlands im Visier.
Passenderweise sind für das bevorstehende Wochenende zunächst Nachttemperaturen knapp über dem Gefrierpunkt angesagt, genauso wie ein Caravan, der nicht wohlig beheizt auf einer Kuhweide abgestellt wird, sondern die Bluesmusik in all ihren Facetten seit 2005 mit den verschiedensten Protagonist*innen als Dreier-Paket zelebriert und weiterentwickelt.
Dieses Jahr wird dabei eine Besetzung geboten, die für uns – im Gegensatz zum restlichen Billing der Veranstaltung – komplett konzertantes Neuland bedeutet.
Der Freitag:
Die Anfahrt gestaltet sich weniger zäh als befürchtet (Stichwort Elb-Tunnel), aber wie befürchtet stehen große Teile der berühmt berüchtigten Kuhweide in 'the middle of nowhere' mehr oder weniger unter Wasser, so dass Camping direkt an der Bahnhofstraße angesagt ist. Das klingt normalerweise nach keiner guten Idee, aber in Joldelund ist der nächste (Dörp)Bahnhof knapp 16km entfernt.
Im Gegensatz zur Corona-bedingten Open Air Veranstaltung im September 2021 sind diesmal beide gebuchten Bands frühzeitig vor Ort und beim Soundcheck, wobei verblüfft beobachtet werden darf, dass Manni von Bohr sich mit kleinem Equipment begnügt, welches aber immer noch einen nicht geringen Teil der Bühne einnimmt und sich der Jimi Hendrix-Gedächtnisverwalter Randy Hansen als spindeldürres Männchen entpuppt, der komplett hinter einen schmalen Holzstützpfeiler passt und interessiert der Probe der niederländischen Harlem Lake lauscht.
Als schließlich die legendären Worte »Joldelunder Bioland Backspezialitäten proudly presents …« ertönen, hat sich das eher unscheinbare Männchen in eine hippieske Woodstock-Reinkarnation seines Vorbilds verwandelt und setzt sogleich die Bühne unter Starkstrom.
Randy Hansen ist im hohen Norden kein Unbekannter und war auch standesgemäß zweimaliger Gast beim Jimi Hendrix-Revival-Festival auf Fehmarn am Originalschauplatz.
Auch sonst ist sein energiegeladener Tribut an den einflussreichsten (Rock)Gitarristen aller Zeiten sehr beliebt und sorgt erstmals überhaupt beim Guitar Heroes Wochenend-Festival an einem Freitag für ein ausverkauftes Haus.
Unterstützt wird er dabei von seinen langjährigen (Europa-) Begleitern Manni von Bohr (Birth Control) und UFO Walter am Tieftöner … bürgerlich Uwe Friedrich Otto Walter.
Selbige halten auch souverän alle Eskapaden ihres Chefs auf einem rhythmischen Grund und Boden, während dieser wie entfesselt das Hendrix’sche Werk dekonstruiert und bei allem Eifer leider den Zusammenbau vergisst.
Eigentlich hat der Mann an alles gedacht, als Rechtshänder macht er halt aus der Not eine Tugend und spielt konsequenterweise eine explizite Linkshänderstrat, hatte doch sein Vorbild als Linkshänder eine solche nicht zur Verfügung und traktierte eine ’normale' Strat für Rechtshänder. Aber leider ist das Ergebnis erstaunlich eintönig, mit großem Hang zum Shredding, was wiederum Hendrix nicht gerecht wird.
Nach einem für dieses Event eher untypisch aufwändigen Umbau entert zunächst Janne Timmer die Bühne und beginnt andächtig am elektrischen Klavier, bevor ihre vier Kollegen nachziehen. Das ist nach dem vorherigen Geschehen gleich ein dicker Kontrastpunkt, dem noch einige weitere folgen sollen.
Harlem Lake sind eine junge Band aus der niederländischen Gemeinde Haarlemmermeer in der Provinz Nordholland und haben ihre Anfänge im Sommer 2017. Aus der Dave Warmerdam Band, die 2019 die 'Dutch Blues Challenge' gewinnen konnte und ein Jahr später im Halbfinale der 'International Blues Challenge' in Memphis stand, wurden Harlem Lake, welche mit "A Fool’s Paradise" 2021 ihr Debütalbum veröffentlichten und ein Jahr später die 'European Blues Challenge' gewinnen konnten.
Mittlerweile ist das lang erwartete Nachfolgewerk finalisiert und die Band folgt dem derzeit zu beobachtenden Trend, auf Tour Alben anzubieten, die erst Monate später veröffentlicht werden.
Und so steht "The Mirrored Mask" musikalisch im Mittelpunkt und fügt sich nahtlos ein in das für die Band so typische Gebräu aus Americana, Blues, Rock, Pop & Soul, wobei im Gegensatz zur Studioproduktion auch gerne längere Jam-Passagen präsentiert werden. Gerade diese geraten zur vorzüglichen Expertise grandios gespielter Live-Musik, da alle fünf Musiker*innen des Quintetts als solche über hervorragende Qualität verfügen. Da wird das Drum-Solo von Benjamin Torbijn zum Erlebnis, statt als Aufhänger für den Toilettengang zu dienen, die Hammond B3 von Dave Warmerdam faucht sowohl virtuos solierend, als auch wohltemperiert als Klangteppich.
Kjelt Ostendorf reüssiert zum Schluss mit einem herrlich unaufgeregten Basssolo, Sonny Ray van den Berg verleiht dem Titel der Veranstaltung größte Berechtigung und Janne Timmer brilliert mit einer ansteckend fröhlichen, positiven Ausstrahlung und einer fantastischen Gesangsleistung. Hier wird das Publikum absolut mitgenommen und diese positive Resonanz beflügelt wiederum die Protagonist*innen auf der Bühne, die sicht- und hörbar begeistert sind und das Grinsen kaum noch aus den Gesichtern bekommen.
Absolute Highlights sind der Slowblues "Our Fire Still Burns On" vom 2019er Warmerdam Band-Album "Play", der Mitstreiter Thomas Völge zu folgender Einschätzung bringt: »XXL-Gitarre, Solo-Architektur à la Clapton, gefühlvolle Einleitung, langsame Steigerung mit ekstatischem Höhepunkt«… und das finale "I Won’t Complain" vom Debütalbum, welches das gesamte Feingefühl, die Dynamik und Spielfreude der Band auf den Punkt bringt und in einer Art Southern Rock-Hymne endet, da Dave Warmerdam auch die Sechssaitige beherrscht und Janne Timmer an die Tasten wechselt.
Das johlende Publikum ist euphorisiert, das Dach des umgebauten Heubodens droht abzuheben und die ausgeschütteten Endorphine verhindern ein Erfrieren im mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Schlafzelt.
Der Samstag:
Vor dem Verhungern wissen wiederum die mittlerweile in vierter Generation hergestellten Bio-Brötchen zu schützen, so wie dies abends Bio-Bratwurst, Bio-Pommes, Nackensteak im Brötchen und unnachahmlich leckere, selbst hergestellte herzhafte Strudel tun.
Als unnachahmlich lecker dürfen inzwischen auch Bywater Call aus Toronto gelten, welche ganz zufällig ebenfalls einen neuen Longplayer am Start haben, der in diesem Fall erst im August seine Veröffentlichung feiern wird, aber bei der derzeit laufenden europäischen Tour bereits erworben werden kann. Und dieser hat es in sich, denn die Band verfeinert nochmals ihr Songwriting und ihr (Zusammen)Spiel, so dass ihr Southern-Soul-Roots-Blues-Rock nie zwingender zu Gehör gebracht wurde.
So präsentieren sie an diesem Abend die ersten neun der insgesamt zehn Stücke auf ihrem inzwischen dritten Album und können sich dabei ein gutes Stück weit von der nicht unähnlich gelagerten Tedeschi Trucks Band emanzipieren. Meghan Parnells Gesangsvortrag hat weiter an (Aus)Druck gewonnen, Gitarrist Dave Barnes slidet noch geschmeidiger über die Saiten, die Rhythmusabteilung am Schlagzeug (Bruce McCarthy) und Bass (Mike Meusel) ist eine Bank,
Neuzugang John Kervin an den Tasten weiß auch sehr guten Background-Gesang beizusteuern, während der Abteilung Blechgebläse in Persona von Julian Nalli (Tenorsaxophon) und Stephen Dyte (Trompete) auffallend mehr Raum zugestanden wird, was in Verbindung mit zusätzlicher Mini-Percussion, gerade von Stephen Dyte mit erfrischend ironischer Note zelebriert, zu einer begeisternden Komponente im Gesamtsound führt. In dieser starken Form bietet sich die Band wahrlich für größere Bühnen an.
Selbige hat zumindest ein Teilnehmer des nun folgenden Blues Caravans Jahrgang 2024 bereits gesehen … spielte Alastair Greene doch in den Live-Bands von Alan Parsons und Starship.
Doch zunächst beginnt die Serbin Katarina Pejak, bereits 2019 Caravan-Teilnehmerin, um ihren mit viel Vorschusslorbeeren bedachten neuesten Streich Pearls To The String vorzustellen. Aber der Berichterstatter Erwartungen sind zu hoch angesiedelt, denn gerade im Vergleich zu den voraus gegangenen Janne Timmer und Meghan Parnell kommt leider nur ein dünnes Stimmchen ohne jeden Druck über die Rampe, zudem noch begleitet von einer im Vergleich zu Harlem Lake und Bywater Call spielzeughaft anmutenden und klingenden Tastatur. Zudem wird sie von keinerlei Saitenspiel flankiert, was im Rahmen des Themas befremdlich wirkt und so zur seltsam distanzierten Ausstrahlung ihrerseits passt.
Aber dann kommt recht schnell Eric Johanson zur Hilfe geeilt und stellt in seinem Set mal eben kurz klar, wo im Genre 'Blues-Rock der Moderne' der Hammer hängt, dargeboten mit einer leichten James-Dean-in-Lederklamotten-Attitüde und gespielt auf faszinierend gut aussehenden und klingenden Duesenberg-Gitarren aus Hannover.
Da ist dann die Gibson Les Paul von Alastair Greene vergleichsweise unspektakulär, umso spektakulärer aber seine Lautstärke, die vermutlich unmissverständlich auf sein neues – wie sollte es auch anders sein – noch zu erscheinendes Album mit dem vielsagenden Titel "Standing Out Loud" hindeuten soll, übrigens wie bei seinem Kollegen Johanson das Ruf-Labeldebüt. Leider sind am Mikro und bei der mit den Gesten eines langjährigen Vollprofis versehenen Saitenperformance unüberhörbare Verzerrungen im Spiel, die das Vergnügen doch erheblich schmälern.
Das wird dann bei der abschließenden gemeinsamen Jam-Session bedeutend besser und der nun eher sämige Ton Greenes kontrastiert wunderbar mit der voluminösen Schärfe eines Johansons. Zu Gehör gebracht werden Schlachtrösser des bluesigen Classic-Rocks wie "One Way Out" (Allman Brothers), "Gilded Splinters" (Dr. John / Humble Pie / Allman Brothers), "Bullfrog Blues" (Rory Gallagher) oder "Evil" (Willie Dixon / Howlin' Wolf / Derek And The Dominos), wobei sich beide Saitenhelden mit dem Röhrchen abwechseln und die vorzügliche Rhythmusabteilung (Christin Neddens am Schlagwerk und Tom Germann am Bass) endlich zeigen kann, was wirklich in ihr steckt.
Dabei soll es sich übrigens nach unbestätigten Gerüchten beim Tieftonakteur nicht um Torsten Sträter handeln. Ein erneuter Jubelsturm des Publikums entlässt uns in eine diesmal eisfreie Nacht.
Der Sonntag:
Bei den dreitägigen Guitar Heroes Festivals von Gerd Lorenzen ist es inzwischen gute Tradition, dass ein Act vom Samstag eine Art musikalischen Frühschoppen ab 11:00 Uhr am darauffolgenden Sonntag bestreitet, bevorzugt akustisch in Anlehnung an MTV-Unplugged … die älteren Leser*innen werden sich erinnern.
An diesem Wochenende wird diese Ehre Meghan Parnell & Dave Barnes zuteil, die allerdings dahingehend intervenieren, dass sie diesen Gig zumindest teilweise auch mit der ganzen Band bestreiten wollen.
Und so bekommt das geneigte Publikum, punktuell von multiplen Nachwehen der vorangegangenen Ereignisse geplagt, nicht nur einen Gitarristen zu sehen/hören, der fortan als Saitenstreichler Deluxe beschrieben werden darf und eine körperlich kleine Sängerin, die stimmlich ganz groß auftrumpft, sondern auch einen Frühschoppenmarsch, der statt Dixieland New Orleans-Rhythmen frönt und mit dem Titel "Sign Of Peace" Hoffnung in zunehmend finsteren Zeiten machen soll. Es ist der Track Nummer zehn vom brandneuen "Shepherd"-Album.
Aber auch sonst gibt es einen Gig mit keinerlei Überschneidungen zum Vorabend, angereichert mit Cover-Versionen aus dem obersten Regal. Egal ob Ray Charles' "Georgia On My Mind", " (You Make Me Feel Like) A Natural Woman" (Carole King / Aretha Franklin) oder Bob Dylans "Don’t Think Twice, It’s Allright", keine Hürde ist zu hoch, um nicht beeindruckend übersprungen zu werden, kulminierend in dem absoluten Höhepunkt, Billy Prestons "Will It Go Round In Circles" mit dem Beatles-Stück "Lady Madonna" zu verquicken.
Epilog/Fazit:
Handgemachte Livemusik mit viel E-Gitarre, langen Soli, verzerrten Gesichtern, analogen Hammond B3-Klängen und keinerlei Showeffekten erscheint viel zu lebendig, um lediglich eine Domäne wohlstandsbeleibter Nostalgiker zu sein. Darüber hinaus trumpft die Frauenpower beileibe nicht nur beim Mainstreampop-Gigantismus einer Taylor Swift, Beyoncé oder Billie Eilish auf.
Auch zum Camping im April darf durchaus geraten werden … raus aus der Komfortzone und etwas Besonderes erleben … diese Erfahrung machen an diesem Wochenende nicht nur die glücklichen Konzertgänger*innen, sondern auch die involvierten Musiker*innen selbst, in deren Community dieses Event nicht umsonst einen exzellenten Ruf genießt.
Bildnachweis für alle Bilder des Events: © 2024 | Olaf 'Olli' Oetken & Henry Klompmaker | RockTimes
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