Europäische Weltklasse in historischer Kulisse
Besondere Ereignisse erfordern besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, zumal an einem Freitag dem Dreizehnten – nach dieser etwas abstrus abgewandelten Devise eines imaginären Kalenderspruchs macht sich die 'Abteilung Nord' von RockTimes an einem frühherbstlich kühlen Spätnachmittag auf die Socken, um den historischen Hafenbahnhof Cuxhavens anzusteuern, bahnamtlich korrekt als Amerikabahnhof bezeichnet. Dieser war Ende des 19. Jahrhunderts bis 1968 – mit der Unterbrechung zweier Weltkriege – Dreh- und Angelpunkt eines regen Linienverkehrs in die neue Welt und im Anschluss florierte die Kreuzfahrt, wo sich ein gewisser Wolfgang Rademann vermutlich gewisse Anregungen angedeihen ließ.
Seit 1999 gibt es den Förderverein Hapag-Halle e. V., der im historischen Passagierterminal Führungen und Ausstellungen schwerpunktmäßig zum Thema Auswanderung und Passagierschifffahrt durchführt. Darüber hinaus bereichert seit mittlerweile knapp vierzig Jahren der Kulturförderverein Jazz und Folk Cuxhaven e.V. (JFC) die Szenerie, der den historischen Kuppelsaal für Konzerte national und international anerkannter und ausgezeichneter Künstler*innen aus den Bereichen Jazz, Folk und Blues nutzt und dabei von einem eher ungewöhnlichen Café-Haus Ambiente profitiert, mit Publikum an Tischen sitzend, einem Getränkeausschank mit Bedienung und einem wenig erhöhten Podest, auf dem in direkter Tuchfühlung musiziert wird.
An diesem Abend ist die holländische Band Harlem Lake aus der Gemeinde Haarlemmermeer angekündigt, standesgemäß vor zwei Jahren zum Gewinner der 'European Blues Challenge' gekürt und seit April dieses Jahres auf Releasing-Tour ihres zweiten Studiolongplayers "The Mirrored Mask", der am 20.09. dieses Jahres auf – nomen est omen – Jazzhaus Records veröffentlicht wird. Auf diesem wird die Band punktuell durch Blechgebläse unterstützt und der JFC bestand auch für diesen Abend auf Kannen-Power. Von den besonderen Qualitäten des Kernquintetts konnte sich der Schreiberling bereits im Frühjahr überzeugen.
Passend zu dieser vielversprechenden Ausgangslage ist im »langweiligen Auto, welches einen lediglich von A nach B bringt« neben dem rasenden Reporter im Zeitlupentempo auch ein Fotokünstler an Bord, der sein 5-Tonnen Equipment schneller am Auge hat, als der Zeitlupenreporter sein Handy in der Hand.
Die wunderschöne goldene Stunde wird während der Anfahrt von einer nicht minder spektakulären blauen Stunde abgelöst und stimmt somit bereits adäquat auf kommende Großtaten ein.
Und tatsächlich, das Ambiente an historischer Stätte ist umwerfend, alleine die interessant konstruierte Kuppel über der sehr ansprechend gestalteten und beleuchteten Bühne, vor der bereits so gut wie alle Tische und Stühle voll besetzt sind, weiß zu beeindrucken. Zur Rechten gibt es eine amtliche Bar, eine zweite mit markanten Kühlschränken befindet sich zur Linken.
Als ähnlich beeindruckend kristallisiert sich umgehend der Sound heraus, sobald Frontfrau Janne Timmer – nach einleitenden Worten vom JFC-Vorsitzenden Wolfgang Kuhn – die Stimme erhebt und sich selbst am Klavier begleitend zarte Töne in die historische Atmosphäre schweben lässt. Ihre Bandkollegen steigen nach und nach in das Geschehen ein, bis tatsächlich Posaune, Trompete und Saxophon den raffinierten Einstieg zum ersten von vielen Höhepunkten pusten.
Dabei wird dem versierten Fachpublikum sofort gewahr, was Wolfgang Kuhn bereits ankündigte … Stammgitarrist Sonny Ray van den Berg ist an diesem Abend leider verhindert, womit um Haaresbreite die gesamte Veranstaltung wie eine Seifenblase zerplatzt wäre.
Aber unser vergleichsweise kleines Nachbarland hat nicht nur eine dramatisch bessere Verkehrsinfrastruktur, sondern auch eine erstaunliche Dichte hoch veranlagter Musiker*innen, die den Freischladers dieser Welt gewaltig den Marsch blasen – um ansatzweise im Genre zu bleiben. Der junge Mann an den Saiten gemahnt optisch jedenfalls an den einen Zwillingssprössling des Berichterstatters, spieltechnisch dürfte aber nur den Wenigsten der Anwesenden auffallen, dass hier ein kurzfristiger Ersatz die Strat-Klänge zelebriert – Punkt, Satz und Sieg für den kurzentschlossenen Saitenhelden.
Selbstverständlich steht musikalisch das formidable neue Album im Mittelpunkt, Rock, Blues, Soul, Singer/Songwriter, Americana sind dabei die Eckpfeiler … es wird aber in der Live-Darbietung geradezu pulverisiert und durch Jazz- und Jamattitüde kongenial erweitert. Überdurchschnittlich gute Bands zeichnet aus, dass sie jederzeit in der Lage sind, auf der Bühne ihre Studioproduktionen in den Schatten zu stellen. Gemäß dieser Definition lauschen wir hier europäischer Weltklasse. Denn neben der grandiosen Janne Timmer, die mit Stimme (Volumen!), Ausstrahlung und Bühnenpräsenz vollumfänglich für sich einnimmt, haben Schlagwerker Benjamin Torbijn und Tieftöner Kjelt Ostendorf als Rhythmusgerüst instrumentale Finessen auf Lager, die dem Namen des Kulturfördervereins alle Ehre machen.
Und ein weiteres Ass im Ärmel ist noch gar nicht genannt … Dave Warmerdam, der 2017 seine nach ihm benannte Band aus der Taufe hob, die sich vier Jahre später in Harlem Lake umbenannte und der an Hammond B3 und Korg-Synthesizer Brillanten aus den Tasten wachsen lässt. Ganz nebenbei greift er auch gerne zum elektrischen Saiteninstrument und lässt im Verbund mit seinem Interimskollegen Southern Rock-Vibes aufleben.
Die umwerfende Musikalität aller Beteiligten wird noch zusätzlich durch das Gebläsetrio druckbetankt, so dass gelegentlich Sorge aufkeimt, die schöne Kuppel könne Schaden erleiden.
Wir genießen den außerordentlich intensiven Slowblues "Our Fire Still Burns On", der allerdings an der Stelle Sonny Ray van den Berg schmerzlich vermissen lässt, erfahren, dass die Beatles die beste Band der Welt sind/waren (kein Widerspruch!) und lauschen einer sehr gelungenen Version von "I’ve Got A Feeling" (Let It Be, 1970), erfreuen uns an einer unerwarteten Joe Cocker-Hommage ("The Letter" – "Mad Dogs & Englishmen", 1970), um abschließend dem Rock’n’Roll frönen zu dürfen, der in Gestalt des Album-Closers "Jack In The Box" frappant an Tina Turners "Nutbush City Limits" (1973) gemahnt.
Die Fotos sind im Kasten, der Applaus so groß wie verdient, die Veranstalter schauen zufrieden und der mondbeschienene Hafen sendet ein letztes Zeichen des Besonderen, sinnbildlich für diesen Abend.
Unser Dank gilt Wolfgang Kuhn vom Kulturförderverein Jazz und Folk Cuxhaven e.V. für die freundliche Akkreditierung!
Bildnachweis für alle Bilder des Events: [von oben nach unten und links nach rechts] © 2024 Ulrich Witte (1,2,4,5,7-27) | Olaf 'Olli' Oetken (3,6,28) | RockTimes
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