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Seit unglaublichen 50 Jahren musizieren sich die, ursprünglich in Ulm begründeten Kraan um ihren unermüdlichen geistigen Schöpfer Hellmut Hattler, durch die deutschen Rockszenerien.
Keine andere Formation setzte einst mit ihrer musikalisch markanten Vermählung von Jazz und energetischem Rock innerhalb einer als Kulturrevolution geltenden Bewegung, sprich dem sogenannten Krautrock, derart nachhaltige Akzente.
Die Redaktion von progspezial (Wartburg Radio Eisenach) sowie RockTimes nutzten die Gelegenheit, Bassist und Kraan-Kopf Hellmut Hattler zum Soundtrack seines bisherigen Lebens zu befragen.
RockTimes: Du warst ja wohl mit Kraan unzweifelhaft an einer musikalischen Revolution sowie an einer emanzipierten Szene hierzulande beteiligt.
Wie schwer war es für Dich und Kraan den revolutionären Geist zu vermitteln und wie betrachtest du diesbezüglich die Musikszene heute?
Hellmut: Meiner Ansicht nach war es damals faktisch eine Art Kulturrevolution, auch wenn sich das heute ein bisschen dick aufgetragen anhört, jedoch gab es zu jener Zeit in keinem Land dieser Erde eine Situation, wo Künstler sich nicht auf ihre eigene Tradition besonnen und auch keine Fremdströmungen Eins zu Eins übernommen haben, sondern nach der ganzen Vor- sowie Nachkriegsgeschichte und seine musische Hinterlassenschaft mit entsprechender Gegenhaltung etwas völlig Neues aus dem Boden stampften. So haben wir versucht viele Informationen die wir aus dem Nahen-und Fernen Osten, Süd-und Nordamerika gleichwohl ethnisch-afrikanische Stilistiken die wir kannten irgendwie zusammen zu tragen, was natürlich nur teilweise klappte, wobei sich irgendwann aus den Vorlieben ferner Interpretieren der einzelnen Künstler ein eigenes Konglomerat bildete.
Es war tatsächlich diese Zeit wo keine Traditionen bedient, sondern auf neue Horizonte geschielt wurde.
RockTimes: Das erklärt geradezu weshalb die Siebziger in der Musikszene so wahnsinnig produktiv waren.
Hellmut: Absolut. Es war ja auch eine ausgesprochene Jugendkultur und nicht so, dass die Jugend ein Veto einzulegen vermochte, wenn die Alten wieder ein paar blöde Gesetze durchsetzen wollten, man ging auf die Straßen um seinen Unmut und Willen kund zu tun, was ja auch teilweise viel bewirkt hat. Nimm doch mal das Beispiel England, wenn du nur mal deren Mode von damals betrachtest, Dinge die heute als spießig oder gar frauenfeindlich, weil nicht ordnungsgemäß gegendert, durchgehen würden, war eben eine echte Jugendkultur. Obendrein existierte gleichsam dieser Sog, in dem sich auch Kraan bewegten, um etwas Eigenes, dazu individuell Passendes zu kreieren.
RockTimes: Kann es sein, dass es dieses Konkurrenzdenken zwischen den einzelnen Bands nicht gab, sondern ihr Euch bestenfalls gegenseitig motiviert habt?
Hellmut: Konkurrenz gab es bei uns überhaupt nicht, im Gegenteil, wir suchten den Austausch mit den anderen Bands. So war unser damaliges Domizil im westfälischen Wintrup für diese eine beliebte Übernachtungsmöglichkeit wo nicht nur gepennt, sondern auch zusammen gejamt, wurde.
Unser späterer Keyboarder, Ingo Bischof, hatte damals auch in einer solcher Übernachtungsbands, sprich Karthago, gespielt und bemerkte irgendwann bei einer dieser Gelegenheiten, dass wir besser zusammenpassten.
RockTimes: Du hast ja bereits mit Sechzehn in einer Schülerband gespielt und den ganzen klassischen Findungsprozess bis zur Professionalität mitgemacht. Warum hast du dich damals für die Bassgitarre entschieden?
Hellmut: Das ist eine relativ unrühmliche Geschichte, kurzum war ich der schlechteste Gitarrist in dieser Bandkonstellation, Peter Wolbrandt dagegen hatte schon mit seinem Bruder Jan Fride Wolbrandt zusammen eine fünfjährige Spielroutine entwickelt. Später gab es dann noch einen zweiten Gitarristen, der mitspielen wollte. Wir versuchten uns auch am – von den Grünen entwickelten – Rotations-Prinzip. Das hieß jeder spielte mal, dabei wurde mir aber recht schnell klar, ich sollte bei meinem Instrument bleiben. Ich erkannte darin schnell eine gewisse Libero-Position, man bewegte sich zwischen Harmonik und den Solisten, vermochte so damit Teppiche auszulegen sowie die Leute durch Grooves anzutreiben. Das hat mir letztlich sehr gut behagt, weil ich somit quasi der Fadenzieher war.
RockTimes: Eine immer wieder gern gestellte Frage ist wohl die Findung des Namens Kraan?
Hellmut: Das Wort Kran kam mir eher zufällig in den Sinn und ich fand mit Doppel a sah es einfach besser aus, ein Umstand den auch Jan, der durch sein Fotographie-Studium sehr visuell denkt, für richtig empfand.
Die Interpretation vorne hart hinten weich wird halt sehr gerne genommen und passt perfekt.
RockTimes: Die Einen bezeichnen eure Musik als Krautrock die Anderen sehen Euch eher beim Jazzrock. Wo siehst Du dich eigentlich heute mit der Band?
Hellmut: Es ist nach wie vor schwierig, wir sind immer noch ein großer Schmelztiegel. Insbesondere ich versuche bei meinen Soloprojekten immer Dinge zu vermischen, die nicht eindeutig zusammenpassen.
Den von den Engländern geprägten Begriff 'Krautrock' empfanden wir damals nicht so schmeichelhaft, bezeichnete Krauts eigentlich die Deutschen mit Stahlhelmen und Pickelhauben, die den Krieg verloren. Einige diesbezügliche Deutungen gingen da einfach weit auseinander, hierzulande wurde es einfach mit Rauchwaren in Verbindung gebracht. Als ich später mit Tab Two – so meine Erfahrungen – nach irgendeineim stilistisch konformen Label suchte, empfand ich es verträglich eben jenes Etikett als gar keines zu tragen. Eine Flasche, sozusagen, worauf sich kein Etikett befände würde keiner gerne verkosten, erst recht kaufen. Im Allgemeinen nehme ich das Ganze jedoch nicht so ernst.
RockTimes: 1972 ein Jahr nach Bandgründung folgte schon das erste Album. Ging das damals wirklich so schnell bei Neuem oder hat da auch das Glück mitgespielt?
Hellmut: Wir hatten vorher schon einen sogenannten Schnürsenkel, nämlich jene auf 2-Spur-Tonband aufgenommene Produktion gemacht, mit dem dann unser beflissener Manager – den man damals wegen eines staatlich-behördlichen Verbotes nicht so nennen durfte – zu einer Plattenfirma ging, welche sofort zugeschlagen hat und obendrein ganzseitige Anzeigen in einschlägigen Journalen schaltete. Die in anderthalb Tagen eingespielten Aufnahmen waren durchaus schon abenteuerlich selbst Free Jazz-Passagen fanden da ihren Platz.
RockTimes: Nun haben wir ja ganz schwierige Zeiten mit Konzertabsagen usw., ihr hattet Euch das 50jährige Jubiläum bestimmt anders vorgestellt.
Nun stehen Auftritte in Aussicht. Was glaubst du wird sich das jetzt hier entwickeln und werdet ihr eurer Jubiläum zwangsweise verschieben?
Hellmut: Nun ja, so eine Feiertruppe waren wir ja noch nie, dass liegt unter anderen daran, dass wir uns nur missmutig zum Geburtstag gratulieren. Solche Rituale passen nicht wirklich zu der Band gleichwohl Zeit und Raum spielten dabei nie wirklich eine Rolle, insofern wird es irgendwann nachgeholt.
RockTimes: Es gibt ja wieder eine neue 2020 erschienene Platte, Sandglass. Wie kam es dazu und wie sind die Erfahrungen bis dato?
Hellmut: Nun, ich hatte einige substanzielle Sachen parat welche ich dann, während des ersten Lockdowns, mit der Option Ideenfindung herumgeschickte. Keiner außer Peter hatte wirklich etwas Neues dazu in Petto. Seine Beiträge in Form von Mehrspur-Files empfanden wir einhellig als recht gut, und so ergab es sich auch, dass seine und meine Kompositionen auf dem Cover diesmal getrennt aufgeführt wurden. Wir ergänzten das Fast-Album um weitere zwei Stücke, inklusive Töne unseres inzwischen verstorbenen Keyboarders Ingo Bischof und schon war das, wie ich finde homogene 13-stückige Werk, zu dem wir uns wegen der Pandemie keine Sekunde getroffen haben, im Kasten.
RockTimes: Hast du persönlich einen Favoriten bei den Produktionen die bis heute erschienen sind?
Hellmut: Die persönlichste ist wahrscheinlich "Flyday" (1978), die technisch ausgefeilteste "Wiederhören" (1977) und die lebendigste ist definitiv "Kraan Live" von 1975.
"Flyday" war schon eine spezielle Geschichte, weil wir nur zu Zweit, also Peter Wolbrandt und Ich, ins Studio zu Conny Plank gingen, um uns recht experimentell, so zum Beispiel, mit dicken Schlegeln auf Bassdrums oder Kinder-Instrumenten, zu produzieren. Insgesamt waren die Sessions wirklich ganz besonders und nebstdem eine ganz frische unbelastete Geschichte.
RockTimes: Wie stehst du den heute noch persönlich zu jenen ersten Produktionen von Kraan vielmehr hättest du im Nachhinein lieber etwas anders gestaltet?
Hellmut: Nun es ist doch klar, dass man einige Sachen heute etwas anders machen würde, jedoch hört man noch die Echtheit und das Anliegen der Band, ein Umstand welcher Niemanden peinlich sein muss. Der schlimmste Fall für eine Band wäre doch mit dem falschen Song berühmt zu werden. Ich denke dabei immer an Rex Gildo der mit Hossa aus dem Hotelfenster sprang, weil er es nicht mehr ausgehalten hat in irgendwelchen Altersheimen Musik zu machen. Im Gegensatz zu den Hinterlassenschaften mit Kraan, so denke ich, sind echte Jugendsünden doch etwas ganz Anderes.
RockTimes: Welche Magie steckt für dich eigentlich aus heutiger Sicht in reinen Instrumental-Kompositionen?
Hellmut: Musik im Allgemeinen wird sehr gern über den Text interpretiert und meiner Ansicht nach über eine andere Gehirnhälfte aufgenommen. Bei Instrumentalmusik lässt du dich entweder darauf ein oder schaltest weg, sprich es gibt nur die eine emotionale Ebene eines Bildes im Kopf und Herz, es diktiert uns also nicht was du zu denken oder zu hören hast.
RockTimes: Die Faszination von urkrautigen Bands wie Can und auch Kraan sind bis heute ungebrochen. Was denkst Du woran das liegt?
Hellmut: Genau weiß ich es nicht, denke aber es liegt an deren Authentizität, schlichtweg an dieser Leidenschaft für Echtes und dementsprechend nichts Vorgetäuschtes.
RockTimes: Wie empfindest du die jetzigen Zeiten mit Streaming und Co.?
Hellmut: Ich empfinde es geradewegs als eine kriminelle Grundsituation, hierbei werden Künstler irgendwie benutzt als wenn diese ihren Abfall entsorgt hätten. Für einen Stream bekommen die Künstler so gut wie gar nichts, dadurch verlieren natürlich herkömmliche Tonträger an Wert und Kompetenz. CDs sowie Platten sind schon bald ein aussterbendes Modell und beides wird es somit bald nicht mehr geben.
Früher verbuchte das Anhören einer Platte irgendwie noch einen emotionalen Wert für sich.
RockTimes: Lass uns über die Zukunft reden. Gibt es schon irgendwelche Visionen und Pläne für Künftiges?
Hellmut: Nun da bringt das Zuhause bleiben für Musiker auch gewisse kreative Vorteile, unterwegs ist man einfach abgelenkter und grober da kommen kreative Prozesse meist zu kurz. Zuhause hingegen habe ich mich, während des zweiten Lockdowns, mit ausreichender Muse vermehrt meinem derzeitigen Hauptprojekt Hattler gewidmet und ein paar vielversprechende Stück fabriziert, welche jedoch noch reifen möchten.
RockTimes: Inwieweit hat sich das Leben nach deiner schweren Krankheit verändert, andernfalls selbige sich auf deine Arbeit ausgewirkt?
Hellmut: Tatsächlich hatte mich 2017 eine recht missliche sowie seltene Diagnose, eine akute zweifache Leukämie, ereilt. Glücklicherweise haben sich nach einer raschen Zelltransplantation, trotz anfänglich negativer Prognosen der Ärzte, doch erste positive Ergebnisse gezeigt, so dass ich vier Monate später wieder, zwar mit einem Stuhl hintendran, auf einer Bühne gestanden habe. Jetzt bin ich schon im vierten Jahr meiner Genesung und freue mich am Leben zu sein, ein Gefühl was sich natürlich auch auf die Musik niederschlägt. Insgesamt war das Ganze sehr heilsam im doppelten Sinne und zählt gegenwärtig wohl zu den kreativsten Zyklen meines Lebens. Gottlob bekam ich während meines Zwangsaufenthaltes im Hospital nach sechs Wochen meinen Bass, den ich täglich desinfizierte, so dass ich gemeinsam mit Siyou, meiner Freundin, erstmalig einen Song schrieb. Ich glaube dieser Song, "Signs Of Love" für die gleichnamige Veröffentlichung von Siyou’n’Hell, zählt zu den Besten was ich bis dato gemacht habe.
RockTimes: Mit dem Projekt Tab Two hattest du ja auch eine erfolgreiche Phase. Erzähle uns doch bitte mehr dazu.
Hellmut: Joo Kraus – er war von 1987-1991 Bandmitglied – und ich haben uns in Ulm beim Flippern kennengelernt und kurz darauf auch schon zusammen musiziert. Unser damals eigentlich mit Hardware betiteltes Projekt wurde kurzerhand in eine Kraan-Tournee mit eingebunden. Da wir damals Beide in derselben Stadt wohnten, verbrachten wir geraume Zeit mit gemeinsamen Komponieren sowie Jamen, und angesichts dieses Übermaßes an kreativen Ideen reifte 1992 unser erstes Plattendebüt "Mind Movie", welches noch mit dem Etikett Hattler&Kraus auf den Markt kam. Später navigierte uns die Plattenfirma zum angeblich Marktkonformeren Duo-Namen The Tab Two dann Tab Two.
Ab dem vierten Album mit einem neuen Label im Rücken ging das Ganze dann letztlich ab wie eine Rakete.
RockTimes: Während dieser Phase hast du auch einmal für Tina Turner komponiert? Wieviel Wahrheit steckt dahinter?
Hellmut: Ja, es passierte mehr zufällig. Wir hatten eben das Glück, dass eben dieses Album, "Flagman Ahead", 1995 auf dem Virgin-Label veröffentlicht wurde, die es dann ihren amerikanischen Partnern anboten. So kam es zum Verbund mit Amerika, welche dieses prompt veröffentlichen wollten und wiederum Frau Turner unter Vertrag hatten. Diese fand unsere Musik anscheinend gut und hegte für sich den Wunsch nach einer Komposition von uns. Eben dieser Titel,"View Of Hearts", erschien dann auf ihrem 96er "Wildest Dreams"-Album, obwohl wir ihn nach der Weichspüler-Bearbeitung von Trevor Horn kaum wiedererkannten.
RockTimes: Hellmut Hattler vielen herzlichen Dank für das angenehme Gespräch. Wir wünschen dir viel Gesundheit und ein gehöriges Maß an Kreativität verbunden mit der Hoffnung, dich mit Kraan baldmöglichst wieder auf Konzertbühnen erleben zu dürfen.
Hellmut: Noch fahren alle auf Sicht, sowohl die Künstler, als auch die Veranstalter. So wie es aussieht kommt es aber mit Sicherheit wieder. Danke, Ich wünsche euch auch eine gute Zeit.
RockTimes bedankt sich bei Ingolf Preiß (progspezial) für die gute Zusammenarbeit, obendrein bei Hellmut Hattler für die Freigabe der Bilder.
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