Musik aus der Klapse, kann das ein geeignetes Konzept für ein Rock-Album sein? Die Idee klingt natürlich nach einem progressiven Hintergrund und tatsächlich haben sich Infringement aus Oslo für ihr zweites Album eine durchgängige Geschichte erdacht, die verschiedene Charaktere einer fiktiven, innovativen Heilanstalt beschreibt – ein faszinierendes Thema und unendliche Möglichkeiten für allerlei musikalische Exzesse. Und selbstredend sind Infringement eine progressive Band.
"Alienism" heißt das vieldeutige Album und bietet besten Neo Prog mit gelegentlichen symphonischen Anwandlungen. Wer Arena, IQ oder Pendragon mag, wird hier bestens bedient und im Laufe der 40 Minuten begegnen wir hier und da auch Anklängen von Anubis oder den schwedischen Flower Kings. Damit wir einen dazu passenden Sound verpasst bekommen, kümmert sich ein Mann um die Produktion, der selbst sehr genau weiß, wie eine solche Musik klingen muss: Karl Groom, der Gitarrist von Threshold, der mir aber viel eindringlicher im Bewusstsein geblieben ist durch seine fantastische Arbeit zusammen mit dem Tasten-Tausendsassa Clive Nolan bei Shadowland, Anfang des neuen Milleniums eine meiner Lieblingsbands im Prog.
Ein schönes Zusammenspiel zwischen einer akustischen Gitarre und stimmige Keyboards nimmt sich Zeit, in das erste Thema einzuführen. Das erste Album von Arena lässt grüßen, "Songs From A Lion Cage". Mann, war das damals eine tolle Erfahrung. "Disorder" (Störung) widmet sich dem ersten Patienten, der passend zu jedem Stück im Inlet namentlich erwähnt und mit entsprechender Anamnese beschrieben wird – selbstverständlich alles fiktiv. David Tickner heißt der 'Impulskontroll- und Zwangsgestörte' für den ersten Song. Die Beschreibung seiner Geisteskrankheit entwickelt sich aus eingängigen Gesangsparts und mitreißenden musikalischen Einfällen voller dezenter Melodik, die sich keinesfalls zu sehr dem Wohlklang hingeben und ein bisschen von der Lyrik der Flower Kings beinhalten. Wen wundert es da, dass mich die Gesangspassagen hier und da ein wenig an Roine Stolt erinnern. Und der Song kulminiert in einem traumhaft aufbegehrenden Gitarrensolo von Stig André Clason. Pathetisch, aber ohne Plattheiten und mit schönen Sprüngen wie bei Anubis' legendärem "The Passing Bell". Geil, da bauen sich Erwartungshaltungen auf.
Der zweite Akt, "Triad", arbeitet sich im ersten Teil mit verstärkter Orgel und einigen Breaks ab, hier geht es zunächst ein wenig unrunder zu als im Auftakt-Song. Es folgt ein chorales Gesangs-Drama mit ungefähr dem gleichen Aufmerksamkeitsanforderungsprofil wie einst bei "Gibberish" von Spock’s Beard. Es folgt eine vertrackte Passage mit leidenschaftlichen Vocals und allerlei experimentellen Sounds. Solche klanglichen Experimente könnte man glatt in der alles überragenden Neal Morse Band vermuten. Und dann baut sich erneut eine Monster-Gitarre aus dem Flow des Songs auf und wer den Produzenten Karl Groom damals bei Shadowland mal gehört hat, der wird verstehen, warum er dieses Album produziert. Das ist nämlich auch sein Ding, der hat das auch drauf!
"Therapy" ist mit weniger als fünf Minuten die kürzeste Nummer, weiß aber mit klaren Gitarrenshuffles gegen orchestrale Keyboardwände zu punkten. Die sehr schönen Molltöne kreieren eine bedrohlich düstere Szene und ehe man sich versieht, ist man bereits im vierten und letzten Werk gelandet und "Delirium" kommt Genre-typisch in epischer Länge daher. Zunächst kämpft Sänger Hans Andreas Brandal erneut gegen finstere Tastentöne, doch mit fast schon beschwingten Hooklines über gefällig lässig groovendem Unterbau nimmt das Thema eine tröstlichere Farbe im Spektrum der Geschichte an. Insgesamt bleibt der Song jedoch eher in der Hand des Tastenvirtuosen Bard Thorstenson, auch wenn die beschriebenen Gitarrenlinien zu Beginn den Kurs durch das "Delirium" zu bestimmen scheinen. Etwa ab der sechsten Minute ist dann aber Schluss mit lustig, eine längere Riff-Passage scheint in einen anderen Raum zu führen. Der folgende längere Gesangspart wird begleitet von allerlei Sound-Tüfteleien, behält aber eine eingängige Rhythmik und Melodik. Und abermals kündigen die Riffs einen weiteren Stimmungswechsel an. Schwebend und düster wabern Keyboardtöne, im Hintergrund bauen sich orchestrale Spannungserzeuger auf wie in einer guten Filmmusik. Man braucht keine Bilder vor der Nase um zu begreifen, dass wir uns einem dramatischen Höhepunkt nähern. Diese Bilder entstehen im Kopf. Zuletzt werden wir über einem nun wieder sanfteren Geflecht mit einem beruhigenden Bass von einem elektrischen Piano an die Hand genommen und ein letztes Keyboard-Crescendo, das mich ganz stark an Mark Kelly von Marillion erinnert, an die Zeit, als Fish dort noch das Zepter trug, darf die Sache auf den Punkt bringen. Die letzte Zeile gebührt noch einmal der Gitarre, dann war es das.
In meinem Umfeld ist schon oft darüber diskutiert worden, in wie weit neo-proggige Konzepte tatsächlich als klassische Rockmusik zu sehen sind. Einige Puristen haben mich da immer wieder mit wenig toleranten Gedankenkonstrukten konfrontiert. Ich sehe das viel entspannter und kann mich sowohl an episch progressiven Kompositionen erfreuen wie an völlig abgefahrenen Freak-outs knallharter Stilrichtungen. Beides hat seine Berechtigung und Infringement treffen den Geist aktueller progressiver Musik perfekt, sie bieten klasse instrumentale Exerzitien und überzeugen mit einem sehr stimmigen Gesang. Geschichten erzählen auf Neo-Prog, das macht Spaß und Infringement finden schöne Ausdruckmöglichkeiten mit fesselnden Melodien und spannenden Breaks. Die zugrunde liegende Thematik trifft in die Vollen, die Verwirrtheiten des Kopfes als Basis künstlerischer Betätigung hat auch schon Maler und Filmemacher fasziniert, wenn ich allein an Hitchocks geniales Meisterwerk "Spellbound" aus den vierziger Jahren denke, ein Film, der mich schon als Junge total fasziniert hat. Vom "Schweigen der Lämmer", "The Sixth Sense" und "Sieben" ganz zu schweigen, drei meiner Allzeit-Lieblingsfilme. Wer mal bei Freud nachgelesen hat, der weiß, dass in einem einzigen Kopf mehr Krimi abgehen kann als irgendein Regisseur es sich erdenken könnte.
Und weil ich mir gerade vor ein paar Tagen ein tolles Live-Album der kanadischen Mystery zugelegt hatte, fiel "Alienism" bei mir auf gut gedüngten Boden. Wer die genannten Bezugsbands mag, wird bei Infringement nichts falsch machen. Ein starkes Album.
Line-up Infringement:
Hans Andreas Brandal (vocals)
Stig André Clason (guitar, vocals)
Kristoffer Utby (drums)
Bard Thorstensen (keyboards)
Espen Larsen (bass)
Tracklist "Alienism":
- Disorder
- Triad
- Therapy
- Delirium
Gesamtspielzeit: 40:10, Erscheinungsjahr: 2019
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