Fans von Iron Maiden lieben die Abwechslung. Deshalb bietet ihnen die britische Band seit längerem wechselnde Tourneen mit Klassikern, denen wiederum Tourneen zu speziellen Alben folgen und umgekehrt. Ständig nur die gleichen Hits zu spielen, soll nicht der Anspruch der populären Musiker sein. Die aktuelle Tour heißt "The Future Past" ("Die zukünftige Vergangenheit") und verrät schon im Titel, worum es hier geht. Gleich zwei Produktionen aus der langen Bandgeschichte stehen hierbei im Fokus: einerseits das aktuelle Album Senjutsu sowie "Somewhere In Time", das vor stolzen 37 Jahren erschienen ist (1986). So kommt dieses Album zu später Ehre und erhält nach Ansicht der Protagonisten live die verdiente Aufmerksamkeit. Zum Zeitpunkt des Erscheinens war der Aufschrei vergleichsweise groß. Synthesizer für Gitarre und Bass kamen erstmals zum Einsatz und wollten so gar nicht zum Heavy Metal passen. So zumindest die überwiegende Meinung. Man stellte die Neuerungen in Frage oder – schlimmer noch – man verteufelte sie. Heute wissen wir, dass gerade die Musiker die neuen Möglichkeiten schätzten und die Herausforderung annahmen.
Mit gleichen Vorwürfen sahen sich im selben Jahr Judas Priest konfrontiert. Der Titelsong ihres damaligen Albums "Turbo" darf inzwischen bei keinem Konzert fehlen und wird jedes Mal frenetisch gefeiert. "Wasted Years" von Iron Maiden steht als Beispiel, wie derartige Kompositionen für Innovationen stehen können. Der Band liefert es ein Paradestück für die für Maiden typischen komplexen Strukturen. Mit seinem unverkennbaren Riff ist "Wasted Years" längst ein Klassiker geworden und ist deshalb länger im Programm. In der aktuellen Setlist schließt es den Reigen der Zugaben ab. Während "The Future Past" erklingen die Lieder wie auf Platte, kein Stück gibt es in Überlänge. Dabei sind schon lange Kompositionen dabei ("Hell On Earth"). Außerdem gibt es keine längeren Soli.
Das Konzert mit einer Spieldauer von knapp zwei Stunden legt Zeugnis der ungezähmten Spielfreude der Akteure ab. Die Leinwände mit einer brillanten Farb- und Lichtqualität zeigen sechs Musiker, die nur so voller Energie strotzen. Mehr noch: Sie strahlen jeweils über beide Gesichtshälften und verbreiteten eine ungetrübte Lebensfreude: Es ist geradezu unfassbar, welche Ausstrahlung die Musiker von Iron Maiden 48 Jahre nach Bandgründung haben. Wohin soll uns die Reise noch führen, wenn Iron Maiden mit ihren Shows scheinbar von Mal zu Mal besser werden? An ein Aufhören darf man nach einer solchen Darbietung im Moment nicht denken.
Ein gefestigtes Kollektiv zeigt musikalisch eine Meisterleistung. Es ist eine einzige Freude! Auf der Bühne sind drei Datumsangaben deutlich zu lesen: 25. Dezember 1975 für die Bandgründung, der 29. September 1986 für die Veröffentlichung von "Somewhere In Time" und schließlich der 3. September 2021 als Einstieg von "Senjutsu". Maiden zelebrieren dieses Konzert also in jeder Hinsicht. Dabei halten sie eingangs am fünf Minuten langen Intro mit Musik von UFO fest ("Doctor, Doctor"): Das Lied schrieb der britischen Band der deutsche Gitarrist und Komponist Michael Schenker. "Caught Somewhere In Time" und "Stranger In A Strange Land" vom Album "Somewhere In Time" leiten die grandiose Show ein, gefolgt von "The Writing On The Wall" und "Days Of Future Past" (beide vom Album "Senjutsu"). Bassist und Gründungsmitglied Steve Harris und seine Mannen genießen jeden Akkord und erwecken zugleich den Anschein, als ob sie in ihrem Musikerleben nichts Anderes als jene Stücke gespielt haben.
Ich kam mir vor wie auf einem Familientreffen, bei dem jeder Anwesende zunächst seinen festen Platz bezieht, um anschließend nach Herzenlust den Platz zu wechseln! Für mich war nicht klar, wer an diesem Abend wohl mehr Spaß hatte: die Akteure auf der Bühne oder das fröhlich-ausgelassene Publikum, das einen weiteren Abend mit den ungekrönten Idolen erleben durfte. Gewiss darf man dieses positive Erlebnis beiden Seiten zu gleichen Teilen bescheinigen.
Die Fans tragen das Konzept der Band ohne Wenn und Aber. Zuhörer, die vielleicht das erste Mal bei Iron Maiden dabei sind, mögen sich vielleicht verwundert die Augen reiben: Was um Himmels Willen heißt hier Heavy Metal ("Death Of The Celt" u. v. a.)? Die Gitarren unüberhörbar, aber der typisch harte Klang bleibt draußen und wird sehr oft von weichen, harmonischen Teilen mit einem bärenstark gespielten Bass umgeben. Wobei zu keinem Zeit der Eindruck entsteht, einer der drei Gitarristen könnte eine Hauptrolle spielen. Das Songwriting ist seit 1999, als Adrian Smith von seiner Solokarriere zurück kehrte und die Gruppe auf sechs Mitglieder wuchs, auf drei dieser Instrumente ausgelegt.
Der großartige Adrian Smith erschien in der Kameraeinstellung als Hauptakteur, doch darf nie die Rolle des äußerst mannschaftsdienlichen Dave Murray, der seit 1977 dabei ist, vergessen werden. Janick Gers, der seit 1990 in den Diensten von Iron Maiden steht, darf man ebenfalls zu keiner Sekunde in Frage stellen. Seine Bühnenpräsenz und dessen solistische Einlagen machen ihn zu einem unverzichtbaren Bestandteil dieser Formation. Sänger Bruce Dickinson, Bassist Steve Harris und der bestens aufgelegte Schlagzeuger Nicko McBrain leben gleichfalls dieses Wir-Gefühl bei Iron Maiden, sodass an diesem Abend nie Zweifel aufkommen, wo denn gerade der Mittelpunkt der Erde zu finden ist!
"Somewhere in Time" wurde genau mit fünf Akteuren aufgenommen, die heute zur Band gehören. Vier Jahre später kam Janick Gers beim Ensemble hinzu. Iron Maiden bleiben für Fans und Musiker eine Lebenseinstellung. Die Band hat sich nie um andere Dinge außerhalb der Musik gekümmert. In seiner Biographie hat es Bruce Dickinson auf den Punkt gebracht: Private Dinge gehören nicht hierher.
Maximal dürfen wir erfahren, dass der Sohn von Steve Harris seit 2009 als Gründungsmitglied The Raven Age angehört. Mit dem Gitarristen George Harris bestritt das Quintett in der ZAG-Arena in Hannover das Vorprogramm. Der 50-minütige Auftritt wollte gut ins Programm passen. Ihr Groove Metal setzte einerseits einen Kontrastpunkt, andererseits stehen bei ihrer Musik melodische Passagen im Vordergrund. Im Herbst 2023 bestreitet die Band einige Termine als Headliner in Deutschland. Neben deren Auftritten mit Iron Maiden waren sie außerdem beim diesjährigen Rock im Park und Rock am Ring mit von der Partie. Eine gute Wahl, um auf den Auftritt des Headliners einzustimmen.
Wenn es so etwas wie eine Punktvergabe bei Konzerten gäbe, dann können wir für Iron Maiden nur die Höchstpunktzahl in allen Kategorien aufrufen oder aus besonderem Anlass die Skala nach oben erweitern. Da es diesmal keinen Dank für eine Akkreditierung auszusprechen gilt, möchte ich meinen Dank einfach für das schönste (Lebens-)Gefühl auf dieser Welt an die Band Iron Maiden und dieses unfassbar wertvolle Konzert am 21. Juni 2023 in Hannover richten.
Erst im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass zwischen meinen beiden Iron Maiden-Konzerten in Hannover ein Vierteljahrhundert liegt. Sänger am 9. Mai 1998 war Blaze Bayley, der den von 1994 bis 1999 auf Solopfaden abgewanderten Bruce Dickinson vertrat. Mit ihm als Sänger bin ich leider nie warm geworden. Dennoch: Das Iron Maiden-Wir-Gefühl wurde jeweils von Publikum und Band gelebt. Es bleibt stets ein Stück Erinnerung zurück. "Heaven Can Wait", "Fear Of The Dark", "The Trooper" und "Iron Maiden" waren die vier Stücke, die beide Male zu hören waren – mit dem Abstand von 25 Jahren.
Line-up The Raven Age:
Matt James (vocals)
George Harris (guitars)
Tony Maue (guitars)
Matt Cox (bass, vocals)
Jai Patel (drums)
Line-up Iron Maiden:
Bruce Dickinson (vocals)
Dave Murray (guitars)
Adrian Smith (guitars)
Janick Gers (guitars)
Steve Harris (bass)
Nicko McBrain (drums)
Setlist Iron Maiden:
- Caught Somewhere In Time
- Stranger In A Strange Land
- The Writing On The Wall
- Days Of Future Past
- The Time Machine
- The Prisoner
- Death Of The Celts
- Can I Play With Madness
- Heaven Can Wait
- Alexander The Great
- Fear Of The Dark
Zugaben:
- Iron Maiden
- Hell on Earth
- The Trooper
- Wasted Years
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