Die warme Stimme hört sich an nach dem vertrauten Mann von nebenan. Immerhin begleitet uns Ian Anderson, Sänger, Komponist, Texter und Flötist der Band Jethro Tull, schon seit 55 Jahren. Der 74-Jährige spielt aktuell außerdem Gitarre, Bouzouki, Mandoline und Mundharmonika. Die Querflöte ist das Alleinstellungsmerkmal und neben Jethro Tull gibt es wohl keine aktive Band, bei der ein klassisches Instrument neben der Stimme des Sängers so herausragend ist. Mit seiner Musik war der britische Musiker immer präsent. Daran änderte auch nichts die offizielle Auszeit der Band, die sich 2012 aufgelöst und 2017 neu formiert hat. Anderson hielt seinen Fans die Treue und bestritt vornehmlich als Solist mehrere Konzerte.
"Locomotive Breath" und "Aqualung", beide aus dem Album "Aqualung" aus dem Jahr 1971, sind die bekanntesten Klassiker der Formation. Sie lassen die Frage zu, ob sie das Erbgut der Musiker beschreiben oder ob sie einfach zum Mainstream jener Zeit gehören.
Zur Zeit der Gründung standen Jethro Tull vor allem für die Stilrichtungen Progressive Rock und Hard Rock. Das Spektrum erweiterte sich allerdings schnell, sodass Töne aus dem Blues- und Folk-Rock sowie Einflüsse aus dem Jazz und der Weltmusik hinzu kamen. Das ist nicht allein der Experimentierfreudigkeit des Sängers in der Rolle eines Multiinstrumentalisten zuzuschreiben. Anderson hat um seine Haltung zu bestimmten Themen nie ein Geheimnis gemacht. Der weltoffene Musiker hat auf diese Weise Jethro Tull zu einer der international erfolgreichsten Combos geformt.
Mit "The Zealot Gene" meldet sich das Quintett zurück, dabei unterstützt von Gastmusiker Florian Opahle an der Gitarre. Es ist damit das erste Studioalbum seit 18 Jahren. Das nunmehr 22. Studioalbum folgt auf "The Jethro Tull Christmas Album" und wurde beim neuen Label InsideOut Music (u.a. Dream Theater) verlegt. Den zwölf Stücken liegt eine faszinierende Mischung aus Folk und Rockmusik zugrunde, wobei es auch Ausflüge gibt, die ausschließlich nach Folk klingen und zum Tanz einladen. Klingen Jethro Tull deshalb mehr nach 2020er Jahre oder mehr nach der Zeit der Anfangsjahre? Diese Frage lässt sich nicht erschöpfend beantworten. Ian Anderson pflegt gemeinsam mit seinen Musikern einen unverkennbaren Stil und bewegt sich unbeirrt zwischen Tradition und Moderne mit dem Zusatz: 'eine modern ausgerichtete Band'. Dafür sorgen allein die Instrumente, die nach meinem Geschmack ein reizvolles Ensemble formen, das auch gute Weltmusik präsentiert. Wenn Anderson die Querflöte gegen die Harmonika tauscht oder John O’Hara das Akkordeon herausholt, dann bleibt kein Auge trocken. Samtzarte Gitarrenklänge holen den Hörer ab in eine Rockmusik, die feinfühliger nicht sein kann. Wiederum ist Platz zwischen all den Einflüssen für ein munteres Gitarrensolo ("Barren Beth, Wild Desert John").
Dabei darf es unter dem munteren Zusammenspiel mehrerer Instrumente, Ian Anderson als Gitarrist inbegriffen, auch schon mal kräftig nach Groove klingen. Ein Beispiel liefert der Opener "Mrs. Tibbets", für mich zugleich der Höhepunkt des Albums. Hier meldet sich zunächst die Querflöte, doch der lockere Einsatze der Instrumente nacheinander hinterlassen hier einen angenehmen kalten Schauer.
Textlich eingebettet ist "Mrs. Tibbets" in das Konzept des Bandchefs, Mythen und biblische Geschichten aufzugreifen. Der Titeltrack "The Zealot Gene" hat Ian Anderson zufolge viele Anspielungen auf die radikale, politisch aufgeladene Welt des Populismus. »Als Liedtext fasst es für mich die trennende Natur gesellschaftlicher Beziehungen und die extremen Ansichten zusammen, die das Feuer von Hass und Vorurteilen schüren, heute vielleicht mehr als jemals zuvor in der Geschichte. Vielleicht denken Sie, Sie wüssten, an wen ich hier gedacht haben könnte, aber in Wirklichkeit gibt es derzeit wahrscheinlich mindestens fünf prominente, diktatorische nationale Persönlichkeiten, die in die Rechnung passen könnten«, kommentiert der Mastermind augenzwinkernd sein Werk.
Jethro Tull anno 2022: Das ist eigenständige Rockmusik mit Wohlfühlfaktor, geprägt von reizvollen Arrangements mit herausragender Instrumentation.
Das Wertvolle an dieser Musik ist, dass sie nicht unbedingt nur Fans anspricht.
Das neue Album von Jethro Tull ist in verschiedenen Formaten erhältlich.
Line-up Jethro Tull:
Ian Anderson (flute, acoustic guitar, harmonica, vocals)
Joe Parrish-James (guitar)
Scott Hammond (drums)
John O’Hara (piano, keyboards, accordion)
David Goodier (bass)
Guest:
Florian Opahle (guitar)
Tracklist "The Zealot Gene":
- Mrs. Tibbets
- Jacob’s Tales
- Mine Is The Mountain
- The Zealot Gene
- Shoshana Sleeping
- Sad City Sisters
- Barren Beth, Wild Desert John
- The Betrayal Of Joshua Kynde
- Where Did Saturday Go?
- Three Loves, Three
- In Brief Visitation
- The Fisherman Of Ephesus
Gesamtspielzeit: 46:49, Erscheinungsjahr: 2022
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