
Wenn plötzlich Jacksonville an der Hamme liegt
»JJ Grey ist eines der wertvollsten Geschenke, dass die Musikwelt in den zurückliegenden 25 Jahren hervorgebracht hat. Bereits auf Platte war sein zwingender Groove-Cocktail aus heiß brodelndem Soul, hypnotischem Funk, Gospel und sumpfig-bluesigem Southern-Rock ein stets beeindruckendes Erlebnis — seine Konzerte eine geradezu spirituelle Erfahrung, die man in Europa viel zu selten machen durfte« (ROCKS Nr. 99 (02/2024).
Da es wirklich nicht besser auf den Punkt zu bekommen ist, seien an dieser Stelle mal die Kolleg*innen eines Printmediums zitiert.
Darüber hinaus kann ohne weiteres ergänzt werden, dass auch ein idyllisches Künstlerdorf in der nordwestdeutschen Tiefebene mit einem Geschenk aufwarten kann – dem schmucken ehemaligen Saal einer Schankwirtschaft, in welchem zu früheren Zeiten norddeutscher 'Dans op de deel' (Niederdeutsch für 'Große Feier mit Musik und Tanz') aufs Parket gelegt wurde und mittlerweile seit knapp 31 Jahren ein Livemusikclub nicht nur die regionale Szene bereichert. Wenn im nahegelegenen Bremen bei manch einer musikalischen Delikatesse gähnende Leere herrscht, so steppt in der als Verein professionell geführten 'Music Hall' regelmäßig der Bär.
Drei Tage zuvor durften JJ Grey und die Seinen beim Europa-Comeback in Paris 500 Leute in der Millionenmetropole an der Seine begrüßen, hier und heute sind schätzungsweise 350 Supporter in der Künstlerkolonie an der Hamme zugegen und entpuppen sich im Laufe des Abends als begeisterungsfähiges Fachpublikum.
Mit dem Titelstück des letztjährigen Albums "Olustee" und einem atmosphärischen, wie eindringlichen Intro an der Mundharmonika eröffnet John Grey Higginbotham sein Comeback in Deutschland nach neun langen Jahren. Damals reüssierte er gar bei der Landesrockinstitution schlechthin … dem WDR-Rockpalast, tauchte danach aber vollständig ab. Wie auf dem entsprechenden Livedokument – und dem zugehörigen Album Ol' Glory – unschwer herauszuhören ist, hatte er damals mit Stimmproblemen zu kämpfen und 'erweiterte' sein gesangliches Spektrum um eine gehörige Portion Heiserkeit.
Dies führte letztlich zu einem ärztlichen Veto, langwierigen Behandlungen und einer Art Stimmband-Reha.
- JJ Grey mit ‘neuen‘ Stimmbändern
- JJ Grey mit ‘neuen‘ Stimmbändern
- JJ Grey mit ‘neuen‘ Stimmbändern
Das Ergebnis dieser Bemühungen lässt sich mit steigender Verblüffung auf dem Comeback-Album "Olustee" bewundern und verfehlt auch auf der verhältnismäßig großen Bühne der Music Hall ihre Wirkung nicht. Intonation, Modulation, Stimmumfang, Klarheit, Druck und Tiefe, derart variabel und federnd ist dem Rezensenten der Protagonist nicht in Erinnerung, einzig die charakteristisch raue Note fehlt etwas.
Die Größe der Bühne wird in beeindruckender Manier dadurch relativiert, dass JJ Grey gleich neun Leute mitgebracht hat, um seine musikalische Vision des Funky-Swamp-Southern-Soul-Rocks zu realisieren.
Auf der Grundlage eines sehr gut austarierten, differenzierten, fetten aber trockenen Sounds machen Kenny Hamilton und Marcus Parsley am Blechgebläse, Linzy Lauren und Katie Dutton als Backgroundsängerinnen, Eric Mason, Craig Barnette und Langzeitmitstreiter Todd Smallie als Rhythmusgerüst, Eric Brigmond an Taste und Posaune und Pete Winders an den Saiten stellenweise mächtig Alarm, nehmen sich in den vielen sehr gefühlvollen und emotionalen Momenten emphatisch zurück und nutzen geradezu brillant genau die Freiräume, die ihnen JJ Grey mit einer langen Leine lässt.
- Kenny Hamilton (saxophone)
- Marcus Parsley (trumpet)
- Marcus Parsley (trumpet)
- Craig Barnette (drums
- Katie Dutton
- Linzy Lauren
- Eric Brigmond an Taste und Posaune
- Todd Smallie (bass)
- Eric Mason (congas, percussion)
- Pete Winders an den Saiten
- Und hier Todd Smallie mit Pete Winders
- Der Chef ist großzügig und lässt Freiräume (hier Todd Smallie)
Das ist an diesem Abend umso wichtiger, als dass der Protagonist aus Jacksonville, Florida, offensichtlich Kämpfe mit sich selbst auszufechten hat, bei
denen der gelegentliche Griff zum selbst vermarkteten 'Rolling Rooster' Florida Straight Bourbon Whiskey nicht hilfreich erscheint.
Das gipfelt darin, dass nach einer ausführlichen verbalen Einführung in die Gospel-Ballade "This River", bei der er mantraartig die gleiche Melodie auf seiner roten Gibson SG repetiert, zunehmend schwermütiger spricht, kurz stockt, einen tiefen Seufzer folgen lässt, mit leiser Stimme anfängt zu singen, der Saal ungewöhnlich mucksmäuschenstill ist, der mehrstimmige Refrain und die gleichsam druckvolle wie einfühlsame Begleitung der Band für wohlige Schauer und Gänsehaut beim Publikum sorgen – kurz, nach einem emotionalen Höhepunkt der Show -, JJ Grey ohne Vorwarnung diese Stimmung jäh unterbricht, indem er wutentbrannt sein Instrument auf den Bühnenboden schmettert und abrupt die Bühne verlässt.
Die Band rettet hochprofessionell die Situation mit einem versiert gespielten und in die Länge gezogenen Outro, während sich der Bandchef hinter der Bühne wieder sammeln kann, um anschließend zurück auf die Bühne zu kommen und sich mit Verbeugungen bei seiner Band und dem Publikum zu entschuldigen. Letzteres erweist sich einmal mehr als erstaunlich einfühlsam und spendet tosenden Beifall, als wolle es dem Protagonisten helfen.
- Todd Smallie lässt sich die gute Laune nicht verderben
- Ungemach kündigt sich an
- Todd Smallie lässt sich die gute Laune nicht verderben
Und tatsächlich, auch ohne Lieblingsgitarre dürfen wir weiterhin einer Band lauschen, die sage und schreibe neun Musiker*innen auf die Bühne bringt, die an der Einspielung von "Olustee" beteiligt waren und wie eine Großfamilie aus Jacksonville eine kompakte Einheit bildet, bei der Tieftöner Todd Smallie als Dauerprotegé die gute Laune nicht zu verderben ist und die jederzeit in der Lage ist, den sehr persönlichen Geschichten den nötigen Raum zum Atmen zu lassen. Das Worpsweder Publikum wiederum erweist sich zusätzlich noch als sehr textsicher und weiß an obligatorischen Stellen fulminant mitzuschmettern, so dass selbst der mit sich selbst nicht im Reinen befindliche JJ Grey einen etwas versöhnten Eindruck macht.
Fazit:
Selten dürfte es in einem Liveclub dieser Größenordnung zu einer ähnlich erstklassigen Umsetzung von Songvorlagen gekommen sein, die den Spirit des amerikanischen Südens atmet, mit größtmöglicher Inbrunst und Feingefühl vorgetragen wird und jede Menge musikalischer Raffinessen in petto hat, einschließlich wunderbar in den Fluss der Show eingebetteter Solospots aller Bandmitglieder. Dieses Doppelgeschenk wird hoffentlich noch lange nachhallen.
Wir bedanken uns sehr herzlich für die problemlose Akkreditierung.
Bildnachweis für alle Bilder des Events: © 2025 | Olaf 'Olli' Oetken | RockTimes
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