«

»

Jon Lord’s Windows – CD-Review

jon lord-windows

Deep Purple waren die Band meiner Jugend schlechthin und die Schrecken meiner Erzeuger, auch wenn ich hinsichtlich meines Geburtsjahrs die meisten ihrer epochalen Werke erst kennenlernte, als die Band sich bereits vorerst aufgelöst hatte. Zugegeben, das "Concerto For Group And Orchestra" hat mich damals eher aus Gründen der Vollständigkeit interessiert, aber der zu dieser Zeit geradezu waghalsige Versuch, einen vermittelnden Weg zwischen orchestraler Klassik und knallharter Rockmusik zu finden, hat mich selbst als Jugendlicher schon fasziniert – auch wenn ich nicht viel davon verstanden habe, welche aufregenden Interaktionen da seinerzeit abgelaufen sind.

Von Jons Solo-Aktivitäten war mir damals nur die "Gemini-Suite" bewusst, wirklich gehört hab ich sie nie. Dass ich nun mit "Windows" bemustert worden bin, dem aus 1974 stammenden, komplexen Werk eines meiner Jugendidole erfüllt mich mit freudiger Erwartung und auch ein Stück weit Spannung, denn das musikalisch elektrische Feld, welches hier erzeugt wird, verlangt natürlich einen klaren Kopf und einen freien Geist. Leicht verdaulich kann solche Kost sicher nicht sein.

Eine gewisse Nähe zur Klassik kann man Deep Purple und seinen Musikern sowieso nicht absprechen. Über Ian Paice habe ich damals mal gelesen, dass er ursprünglich Geigenunterricht bekommen habe, irgendwann aber entschied, dass das Teil besser klingt, wenn er es auf die Tischkante zimmert. So wurde er Drummer. Und Ian Gillan war Jesus – natürlich in "Jesus Christ Superstar" auf jenem legendären Album im Sommer 1970, Musik, die als Grundlage für ein neues Genre angesehen wird, obwohl man den Schöpfern niemals mit dem Begriff Musical kommen sollte. Andrew Lloyd Webber und Tim Rice bezeichneten ihr Werk stets als Rockoper. Meines Wissens nach hat Ian den Jesus übrigens nie live gespielt.

Nun ja, und Ritchie Blackmores Mittelalterambitionen aus aktuellen Tagen haben ja auch irgendwie einen klassischen Touch.

Die Beharrlichkeit eines Jon Lord übertraf aber bei weitem den klassischen Enthusiasmus der Kollegen, was man schon in den wilden Soli der frühen Live-Alben immer wieder feststellen kann. Und eben in den Solo-Projekten.

Es ist wahrlich kein Wunder, dass ausgerechnet ein Freigeist wie Eberhard Schoener hier das Orchester leitet. Er, der selbst in der elektronischen Musik mit seinen gewaltigen Synthesizer- und Keyboard-Rotunden als ein Pionier betrachtet werden kann und dessen Begleitmusiker aus den späten Siebzigern ganz nebenbei ein eigenes Projekt begründeten, das sie zu Weltruhm führte. Damals spielte Eberhard nämlich mit Steward Copeland, Andy Summers und Sting – niemand anderes als The Police (deren Musik jedoch eine ganz andere war).

Das Werk beginnt mit einem kühnen Ansinnen, nämlich eine unvollendete Fuge des Johann Sebastian Bach zu interpretieren und zu beenden, die der übrigens auf Tönen basieren ließ, die die Buchstaben seines eigenen Namens repräsentierten. Mutig, mutig, sich an ein solches Unterfangen zu wagen. Das Stück beginnt mit entsprechend ausgeprägten Breaks, zwischen den Kulturen und Rhythmen und eigentlich allem, was man kontrastieren kann. Herrlich grollende Orgeln aus Jons bekanntem Spektrum, bluesige Einwürfe, filmmusikreife Orchester und ein wildes Violin-Gefidel wechseln mit Schlagzeugsoli, ein herrliches Tohuwabohu für den ungeübten Rock-Normalo. Ich sagte ja schon, hier muss man versuchen, mit dem Kopf über Wasser zu bleiben. Aber irgendwann stellt man sich ein auf die hinreißende Kraft der Streicher, die mäandernden Blasinstrumente, die uns zwischenzeitlich ins Barock zurück zu beamen scheinen. Eine betörende Kraft, die treibt, gleitet, tanzt und kreist. Es begeistert, wie Pete York sich mit seinem sensiblen Schlag in diese Atmosphäre eindriftet, Jons Orgel passt zu Bachs Werken eh perfekt, das hat er schon bei Deep Purples Konzerten ein ums andere Mal mit manchem klassischen Zitat bewiesen. Der bluesige Showdown mit jazziger Trompete toppt das Ganze – heute würden wir so etwas wahrscheinlich eine geniale progressive Fusion nennen. So etwas wurde 1974 gerade populär. Miles Davis war zu der Zeit sehr erfolgreich mit solchen Exkursen unterwegs, heute fällt mir Nils Petter Molvaer ein. Finale Furioso und der ultimative Aufmacher für "Window".

"Window" gliedert sich in drei Sätze mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen, Stimmen und Stimmungen. Eine kakophonische Explosion eröffnet den ersten Satz und führt uns in eine herrliche Improvisation bester Blues-Art, so kennen wir es auch von Purple, wenn sie denn live losgelassen waren. Fetzige Gitarre, satte Orgel, bei der Jon stilistisch auch ein bisschen von der Jazz-Legende Jimmy Smith mitnimmt, doch dann brilliert eine schrille Sopranstimme, die mich allerdings hier und da an die Grenze meiner Klassik-Affinität heranführt, während in den weniger expressionistisch geprägten, gesungenen Passagen vertraute Erinnerungen an Klaus Schulzes Konzerte zusammen mit der Operndiva Lisa Gerrard wach werden. Das sind eben die Momente, die auch dem weniger Koloratursopran erprobten Rockmusikhörer besser ins Ohr gehen werden. Doch insgesamt dominiert ein shufflender Groove.

Der zweite Satz beginnt angesichts eines fernöstlichen Ansatzes mit asiatisch anmutender Percussion, der ein hoch emotionales Streicherthema folgt. Insgesamt folgt "Windows", wie ich zugegebenermaßen im Informationsmaterial nachgelesen habe, dem Prinzip eines japanischen Kettengedichts, bei dem diverse Schreiber gemeinsam alternierend Verse beitragen, bis das Gesamtwerk fertiggestellt ist. Und bald verströmt dieser mitreißende Part ein wenig von jenem Geist, den die schon zitierte Rockoper über die letzten Tage von Jesus Christus verströmte, mit schönen, bluesig groovenden Passagen und mitreißenden Gesangsparts, diesmal sehr rockaffin, wenn neben Tony Ashton und Glenn Hughes die Röhre eines David Coverdale ertönt.

Der dritte Satz ist stark perkussiv ausgeprägt und bietet Pete York ein feines Spielfeld für ein virtuoses Solo. Das finale Piano, mit dem Jon Lord noch einmal resumiert, korreliert mit den beschwingten Streichern, die hier ein ganz klein wenig wie Deep Purples "Concerto…" klingen. Eine fette Orgel spricht sozusagen das Schlusswort.
Das alles hat bereits 1974 stattgefunden – doch nun wurden die originalen Tonspuren in den Abbey Road Studios neu gemastert und liefern uns einen faszinierend tiefen und satten Beweis, welch kreativer Geist in einem unserer größten Tastenvirtuosen wohnte. Und es zeigt uns, welchen Verlust die Rockwelt am 16. Juli 2012 erlitten hat.

Du warst ein Held meiner Jugend, Du bist ein Idol meiner Kultur und nun haben wir mit einer klanglich dem modernen Zeitalter angeglichenen Version von "Windows" ein beeindruckendes Vermächtnis Deiner großen Kunst in den Playern; ein Werk, das uns beweist, wie weit Du schon vor langer Zeit Deiner Zeit voraus warst.
Danke Jon Lord und Ruhe in Frieden.


Line-up Jon Lord:

Jon Lord (piano, organ, synthesizer)
David Coverdale (vocals)
Ray Fenwick (guitar)
Tony Ashton (piano, organ, vocals)
Glenn Hughes (bass, vocals)
Pete York (drums, percussion)
Eberhard Schoener (moog synthesizer)
The Munich Chamber Opera Orchestra conducted by Eberhard Schoener
Ermina Santi, Sigune Von Osten (soprano vocals)
George Morrison (trumpet solo)
Gottfried Greiner (cello solo)
Gunter Salber (violin solo)

Tracklist "Windows (2017 Reissue)"

  1. Continuo On B.A.C.H.
  2. Window

Gesamtspielzeit: 49:03, Erscheinungsjahr: 2017 (1974)

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

Beiträge im RockTimes-Archiv

Über mich

News

2 Kommentare

  1. Karl Huber

    Bin ein sowohl klassisch gebildeter wie auch rockiger Musiker und Conneisseur. Jon Lord und Deep Purple gehörten immer mit zu meinen Favoriten. Drum musste ich auch "Windows" irgendwann haben. Habe das "Werk" jetzt insgesamt viermal gehört, weil ichs einfach nicht verstanden hab. Heute Morgen hatte nun mal ich die Erleuchtung: Es ist einfach das, nach was es klingt! Und das ist: GROBER UNFUG. Musste ich jetzt einfach mal loswerden.

  2. H-J

    Ich finde dass Windows das "gewöhnungsbedürftigste" Solowerk von Jon Lord ist.
    Da muss man sich schon sehr auf experimentelle Musik einlassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>