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JPL / Le Livre Blanc – CD-Review

Findet Nemo!?

Na ja, der Versuch ist es wert – aber Nemo bleibt erst einmal verschwunden. Die herausragende französische Prog-Band liegt nämlich vorerst auf Eis, seit drei Jahren kryostatisch verwahrt von Bandboss Jean Pierre Louveton. Aber es gibt ja JPL, zusammengesetzt aus dessen Initialen. Was als 'Projekt' begann, ist, seitdem man auch Liveauftritte absolviert, längst zu einer 'richtigen' Band geworden. Und nicht nur Jean Pierre Louveton sowie die auf "Le Livre Blanc" als Gäste mitmusizierenden Guillaume Fontaine und Jean Batiste Itier sind Überschneidungen – auch klanglich wähnt der geneigte Fan Nemo so ein bisschen gefunden. Spätestens, wenn zum Gitarrenspiel auch noch die Stimme Jean Pierre Louvetons kommt, ist der Fall ziemlich klar.

Stilistisch spielt der Meister ebenfalls sein Können aus und kredenzt ausnahmslos progressive Hochglanzware. "Un Livre Ouvert", "L’Hermite", "L’Etoile Du Nord" und "Jehanne" sind typische dramaturgische Feinkost mit Tiefgang und Emotion an der langen Leine. Zu Beginn oft zarte, schwermütige, geheimniskrämernde Arpeggien, die auch Fates Warning-Fans überzeugen können, sollten sie sich auf die französische Sprache einlassen wollen. Epische Strukturen mit langen instrumentalen Strecken, Rhythmen, die nicht immer eine natürliche Zahl ergeben, wenn man sie durch zwei teilt, leidenschaftlichen Soloparts mit großen, nie overplayten Finals. Alles sehr organisch und melodisch und bei allem Spielwitz und aller Komplexität doch erstaunlich eingängig (siehe bzw. höre beispielsweise die Riffs, die bei "L’Etoile Du Nord" und "Jehanne" kreiert werden – simpel, aber immens eindringlich).

Selbst bei "Condoléances' weiß JPL zu überraschen – beginnt das Stück doch ganz im Stile von Dream Theaters "Vacant" als eine Die-Welt-hat-mich-verlassen-Ballade; und nach drei Minuten kommen plötzlich doch noch schwermelancholische, beschwörerisch verzerrte Chords ins Spiel. "Trompe La Mort" bleibt rein akustisch, ist dafür aber keinesfalls eine Ballade. Plus de surprises? In "Joker" wird auf Englisch gesungen. Als Duettpartner kommt Steph Honde ins Spiel – so wie bei "Trompe La Mort" Dominique Léonetti. Er könne mit seiner Stimme einfach nicht all das machen, was er will, meint Louveton – da sei es logisch gewesen, bei Stücken, die andere Sänger bräuchten, auch passendere ranzulassen. Das ist eine Entscheidung, die bei manch anderem sicherlich durch das Ego blockiert würden – Respekt.

Und tatsächlich ist "Joker" ganz schön 'anders' und präsentiert sich als über weite Strecken straight rockend mit orgeligen Classic-Rock-Sounds. "Joker" beinhaltet zusammen mit "La Peste Et Le Choléra" (mit seinem ruhigen Ausklang "L’Antidote" die temporeichsten Momente des Albums, wobei "Joker" eher retro-klassisch angehaucht im Spock’s Beard-Stil daherkommt und "La Peste Et Le Choléra" einige dynamisch-technisch-verspielte Prog-Metal-Momente aufzuweisen hat. Bleibt noch der rein instrumentale Schlusspunkt zu erwähnen, der Titeltrack "Le Livre Blanc" – ein anspruchsvoll-introvertierter Soundtrack zum proggigen Sinnieren. Der Titel – zu Deutsch in etwa 'das leere Buch' – ist für ein Stück ohne Text geschickt mehrdeutig gewählt. Denn das gesamte Album dreht sich viel um Religion und insbesondere immer wieder um den Umgang mit dem Tod und um die Erinnerung an Menschen, die wir verloren haben.

Aber trotz religiöser Motive und kunstvoll aufbereiteten Fotos aus dem Innern einer Kirche als Artwork hat Jean Pierre Louveton kein religiöses Album geschrieben. Ein spirituelles, ja. Mit Religion(en) habe er nichts am Hut, sagt er. "Le Livre Blanc" sei daher als Metapher zu sehen – als Aufforderung, sich seine eigene Bibel zu schreiben. Genre-Fans sei in jedem Fall empfohlen, JPL ein eigenes Ohr zu leihen – selbst, wenn die aktiven Französischkenntnisse nicht über l’amour und baguette hinausgehen. Und dann begeistert zu sein und sich zurückzuarbeiten zu Nemo-Großtaten wie Barbares


Line-up JPL:

Jean Pierre Louveton (guitar, vocals, bass, percussion, programming)
Jean Batiste Itier (drums – #1,2,5,8)
Ludovic Moro (drums – #3,7)
Guillaume Fontaine (piano – #1,2)
Steph Honde (vocals – #3)
Dominique Léonetti (vocals – #4)
Sebastien Delestienne (bass – #7)

 

Tracklist "Le Livre Blanc":

  1. Un Livre Ouvert (5:54)
  2. L’Hermite (9:28)
  3. Joker (6:38)
  4. Trompe La Mort (4:13)
  5. L’Etoile Du Nord (5:55)
  6. Condoléances (5:31)
  7. La Peste Et Le Choléra/L’Antidote (7:17)
  8. Jehanne (10:44)
  9. Le Livre Blanc (6:10)

Gesamtspielzeit: 62:23, Erscheinungsjahr 2017

Über den Autor

Boris Theobald

Prog Metal, Melodic Rock, Klingonische Oper
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv

Mail: boris(at)rocktimes.de

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