Nachdem Kiev Stingl 1980 seine Deutschland-Tour absolviert hatte, erschien ein Jahr später sein drittes Werk "Ich wünsch den Deutschen alles Gute". Und diese Platte ist anders als die beiden vorangegangenen. Und das liegt nicht daran, dass er mit anderen Musikern spielt.
Auch die Kritiker, so informiert uns das Begleitschreiben, hielten sich im Gegensatz zu den Vorgängern zurück. Und in der Tat, nachdem sich Teuflisch sowie Hart wie Mozart fest in meinem Kopf eingenistet haben und bis dato 'meinen' Stingl’schen Kosmos bildeten, traf mich "Ich wünsch den Deutschen alles Gute" erst einmal hart. Ja hart, denn musikalisch geht es härter, aggressiver und überwiegend moderner zu. Diese modernen Spielarten sind natürlich auch zum Teil der Zeit geschuldet, unterstreichen aber auch die Texte, die eine gehörige Portion Politik enthalten.
Mag sein, dass letzterer Umstand die Kritiker verhaltener reagieren ließ. Dabei sind diese Texte von damals erstaunlicherweise oft auf das Heute übertragbar. Ohne jetzt in die Politik abzudriften, mag alleine bereits der Albumtitel seine Aussage bis in das Jetzt zu manifestieren wissen.
Stingl setzt schräge zappaeske Kuriositäten genau so ein, wie Falco-Rhythmik oder gar Tanzbares wie das lyrisch starke "Einsam weiß Boy".
Dieses Stück will ich in Teilen zitieren, um zu zeigen, dass neben Text und Musik auch Wert auf die Schreibweise gelegt wird, denn durch dieses Stilmittel gibt es besondere Betonungen, die alleine durch das Hören nicht transportiert werden können. Bei der Gelegenheit sei bemerkt, dass in diesem »Stingl Jahr« auch der Film "Kiev Stingl – No Erklärungen", produziert von Dirk Otten und M.A. Litter, veröffentlicht wird. Wie auch seine Gedichtsbände 2017 wieder erhältlich sein sollen. Wer sich in den Stingl mal reingehört hat, wird also bestens bedient, sollte er mehr über den Mann erfahren wollen.
»einsam WEISS boys
du gehst in nightclubs
phantastic rooms
there the criminals are waitin' for you
nightclubs are everywhere IN CITIES WHERE THE HEART ARE leer
and if your make-UP is OK
genickschup makes you stay sleepin' (Restless Alles Fraktion)
crime (VERBRECHEN) is the act of today’s IDENTITÄT
and all the murdered AFRICANS hate my SYSTEM
total tot AFRIKA haßt MEIN DEIN system
NUR:
the lonely white boys
die einsam weiß boys
lassen nicht ab von der Idee von dir
in this place of highballs between the balls
you touch, WHITE GIRLS«
[…]
Er geht zur Sache, der Kiev; auch im Titelstück, das er kompromisslos auf seine Weise mit den Zeilen »ich wünsch den Deutschen alle gute – give me Ä HÄD!« beendet. Gerade diese Platte ist geeignet, Lust auf seine Gedichte zu bekommen, weil der Interpret bzw. Poet verbal schon mal die Sau rauslässt. Aber nicht immer, es gibt Poetisches ohne Bezug zur Politik, aber immer schön schwarz, wie das Saxofon-veredelte "Anonyme Herren und Damen".
Wenn es auf "Ich wünsch den Deutschen alles Gute" eine Nummer gibt, die auch auf die Vorgänger gepasst hätte, so ist es "Wie von Sinnen". Ein herrlich melodisches, tiefsinniges Stück, das ich gerne als Sternstunde deutschsprachiger Rockmusik bezeichne. Ja, 2017 ist das Stingl-Jahr und bitte mehr davon … Spätestens nach diesem Album steht für mich fest, dass es keinen Sinn ergibt, sich für ein Stingl-Album zu entscheiden. Alle drei gehörten Werke sind für sich allein genommen wert, im Regal zu stehen. Und man sollte sie nicht miteinander vergleichen, sondern jedes für sich genießen. Am besten immer mit dem Booklet in der Hand, denn die Lyrics sind das A und O.
Line-up Kiev Stingl:
Kiev Stingl (Stimme, Gitarre – #6)
Manuel Darboven (Schlagzeug)
Joko Osiek (Bass)
Achim Mennicken (Gitarre)
C. Naked Lunch (Synthesizer)
Plus:
Norbert Hinterberger (Piano – #7)
Klaus von Felsen (Tenorsaxofon – #1,5)
Klaus Wyborny (Piano – #8)
Ruth 'Rudi' Rockenschaub (Chor – #1)
Achim Reichel (Gitarre – #1)
Tracklist "Ich wünsch den Deutschen alles Gute":
- Einsam weiß Boy
- Ich wünsch den Deutschen alles Gute
- Gott euer neuer Herr
- Mann ist Mann
- Anonyme Herren und Damen
- Der Tod in der modernen Welt
- Die Helden der Zeit
- Wie von Sinnen
Gesamtspielzeit: 42:20, Erscheinungsjahr: 2017 (1981)
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