Ich habe 1975 wohl in den falschen Locations abgehangen, denn was Sireena hier wieder mal ausgegraben hat, trifft heute, mehr als 40 Jahre später, zum ersten Mal meine Ohren. Ein Beweis, dass es das Leben schon auch mal gut mit einem meint, indem es in vorliegendem Fall dafür gesorgt hat, dass dieses Album, bzw. dieser Musiker doch noch den Weg in meine Sammlung gefunden hat.
Laut Sireena soll noch mehr von Kiev Stingl, der bürgerlich Gerd Stingl heißt, geben. Stingl war auch schauspielerisch unterwegs, und er schrieb. Demnächst wird es einen Film von Dirk Otten und M.A. Littler mit dem Titel "Kiev Stingl – No Erklärungen" geben, seine Gedichtbände sollen veröffentlich werden und klar, Sireena wird weitere Alben nachlegen.
"Teuflisch" ist das erste Werk Stingls und datiert aus dem Jahr 1975. Insgesamt veröffentlichte Stingl vier Alben (bis 1989), von denen die ersten drei in Zusammenarbeit mit Achim Reichel entstanden. Neben Achim finden sich in der Besetzungsliste auf "Teuflisch" weitere Musiker, die, ohne die Platte gehört zu haben, als Beweis dienen dürften, es hier mit einem Kleinod aus den alten deutschen Landen zu tun zu haben. So beinhalten die Viten der Musiker Namen wie Udo Lindenberg, City Preachers, Peter Maffay, Frumpy, Atlantis, Randy Pie, Rattles, Wonderland oder Rudolf Rock & die Schocker.
Stingls Texte handeln von Trieben, von Barbesuchen, Rockern und Phantasien um allerlei Sachen, die Radiomacher großer Sender nicht im Programm haben wollen. Damals nicht und heute erst recht nicht, denn das würde den Durchschnittshörer kulturell überfordern. Dabei ist alles was er lyrisch von sich gibt absolut koscher. Und wenn man Passagen wie die vom Sonnenschein träumenden Huren, den sieben nackten Mädchen, die am Marterpfahl schlafen, den lila Lippen und den Milchkuhtitten nach dem ersten Aufhorchen tiefer 'untersucht', wird die literarische Dimension erfasst. Der Promoter spricht zu Recht von Underground-Poesie. Was zu der Zeit zum Thema aus dem Amiland bekannt war, z. B. Charles Bukowksi oder (die mir allerdings unbekannten) Douglas Blazek sowie Tom Clark, fand in Deutschland Pendants wie den mir geläufigen Wolf Wondratschek und – um die Symmetrie zu wahren – die mir nicht über den Weg gelaufenen Jörg Fauser und eben Kiev Stingl, der begann, seinen Texten auch ein musikalisches Gewand zu schneidern.
Und dieses Gewand sitzt hervorragend, ja, es verstärkt die Poesie mit enormer, gekonnt gesetzter Dramatik. Ist es hier der süßliche Hammond-Sound, ist es dort eine geile Gitarre, ein akzentuierter, den Text-führender Bass, der bei "Teuflisch" mit seinen knarzigen Rülpsern gar zum Niederknien einlädt. Apropos Niederknien, das bleibt auch bei "Der Sommer ist längst vorbei" und "Seltsam dich hier zu sehn" nicht aus. Überhaupt kann man dem kompletten Album keine einzige Schwachstelle nachweisen. Es ist spannend in Text und Musik und Kievs Sprachrhythmik sorgt mit den Bedienern der Instrumente für viele Gänsehautmomente. Seine Stimme, die irgendwo zwischen Lou Reed, einem heiseren Niedecken liegt, die etwas Morrison-Timbre (dem ist übrigens "Der Sommer ist längst vorbei" gewidmet) hat und wenn man von der Frequenz der Stimme absieht, gar an den Robert denken lässt.
Kiev Stingl ist einer der Künstler, die auch dann im Regal fehlen, wenn man sie nicht kennt. Will sagen, das ist ein dicker Tipp von mir und wieder mal ein Beweis, dass deutsche Texte in keinem seriösen Plattenregal fehlen dürfen. Das einzige Problem dürfte sein, dass manche Menschen Underground ganz unten einsortieren. "Teuflisch" gehört aber ganz nach oben. Bei mir jedenfalls wird dieses Album in Zukunft immer wieder im Player rotieren. Schließlich musste ich 42 Jahre darauf warten.
Line-up Kiev Stingl:
Kiev Stingl (Gesang, akustische Gitarre)
Achim Reichel (Elektrische Westerngitarre, akustische 12-Saiten-Gitarre, Celeste, Spezialklänge)
Jean-Jaques Kravetz (Piano, Hammond.Orgel, Streicher Cabinett)
Dicky Tarrach (Schlagzeug, Perkussion)
Tissie Thiers (Bassgitarre)
Stefan Wulff (Mundharmonika)
Tracklist "Teuflisch":
- Ihr Blick ist höllisch kalt (3:22)
- Tierisch, in die Bars zu gehen (3:18)
- Rocker (2:47)
- Teuflisch (4:37)
- Häng rum (3:38)
- Morgen komm ich (5:50)
- Der Sommer ist längst vorbei (5:32)
- Seltsam, dich hier zu sehn (6:43)
Gesamtspielzeit: 36:21, Erscheinungsjahr: 2017 (1975)
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