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King Of Agogik / Morning Star – CD-Review

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Selten habe ich bei der Besprechung einer Platte in so viele verschiedene Ebenen poetischer Ausdrucksweisen eintauchen dürfen wie bei dieser Scheibe. Der Titel "Morning Star" möchte uns keinen verkitschten Sternenhimmel unterjubeln, sondern formuliert ins Englische verfremdet den Namen dessen, der letztlich als Inspiration zu diesem Album diente. Das war kein geringerer als der Deutsche Poet Christian Morgenstern. Mit dem habe ich nicht so viele Erfahrungen, darum habe ich nachgelesen. Der Mann hatte demnach einen faszinierenden Wortwitz und wird daher von vielen Interessierten als eine Art Ur-Vater der Poetik eines Loriot betrachtet. Dass mir das bislang entgangen ist, bin ich doch seit vierzig Jahren ein begeisterter Fan von Herrn von Bülow (R.I.P.). Fast mag man einen Oliver Kalkofe als adäquaten Nachfolger in dieser Reihe nennen, denn dessen sprachliche Möglichkeiten sind gleichsam unendlich und von hinreißend bösartigem Witz.

King Of Agogik, dahinter verbirgt sich Hans-Jörg Schmitz, Schlagzeuger und Multiinstrumentalist aus dem rheinischen Andernach, der sich von den tiefschürfenden Texten des alten Meisters zu einem ganz und gar faszinierenden Album progressiver Rockmusik inspirieren ließ und hierzu ein ganzes Konglomerat potenter Unterstützer an seine Seite berief.

Ein herrlich sphärisches Intro führt geheimnisvoll in ein musikalisches Abenteuer, das mit modernen Samples, fast schon postrockigen kurzen Ausbrüchen und meditativen Elementen den Akku gleich zu Beginn voll auflädt und dann erstmals eine wunderschöne, jazzige E-Gitarre auf Händen trägt. Licks von getragener, leicht orientalischer Schönheit, mit der uns in den Siebzigern ein gewisser Al di Meola einst mächtig Dampf machte – sogleich befeuert von querulanten Breaks aus einer sehr variabel agilen Schießbude. Riffs und aggressive Keys eifern um die Gunst, und im Hintergrund locken historisch verführerisch die Tubular Bells.

Was für ein überwältigend vielschichtiger Auftakt – und wenn das Hauptthema von "The Unavoidable Wayfare…" einschmeichelnd aufspielt, dann fühlen wir uns ein bisschen wie in einem Geschichtsbuch Progressiver Rockmusik. Treffsicher untermalt ein fast schon Tangerine Dream-typisches Keyboard die Soundlandschaft, da kommt mir einen Moment die Suite "Mojave Plan" vom Album "White Eagle" in den Sinn. Nur einen Moment, denn dann wird mit rhythmischem Feuerwerk und Gitarrenklängen aus den wilden Jahren der Fusion ein eklatanter Kontrapunkt gesetzt. Und dann immer wieder diese verträumt melodischen Einlagen.

Wo soll uns das denn hinführen? Eine hymnische elektrische Gitarre aus bestem NEO-Prog zeigt es an: Hier hat jemand eine Menge Können und Sachverstand mit historischen Wurzeln und allerlei Spielarten befeuert und mixt ein wahrhaft wohlklingendes Ton-Gebräu. Und wenn die Röhrenglocken wieder ertönen, dann wird der Film "Der Exorzist" in mir wach, denn dort hat Mike Oldfield (war der gerade 19 Jahre alt?) mit seiner Musik einen Löwenanteil am Erfolg des großartigen Werkes erzielt. Und der Vergleich mit Herrn Oldfield hinkt nicht, denn auch Hans-Jörg Schmitz, der Mastermind und Macher von King Of Agogik ist ein Multiinstrumentalist, der für ganz viele Ausprägungen seiner Musik selbst Hand anlegt.

"…To The Place Of Origin", quasi die Fortsetzung des ersten Longplayers und mit seinem Motto wohl das Grundthema des Albums, leitet über in eine völlig andere, folkige Atmosphäre, die mit Flöten und Geige und einer herrlich entspannten Gitarre den Geist eines Friedemann Witecka heraufbeschwört. Traumhafte Passagen wie ein Soundtrack einer langen Reise in die entferntesten Winkel unseres Planeten – oder des Daseins selbst. Das Solo aus dieser gemächlichen Stimmung ist in seiner Melodik, Intensität und subtilen Steigerung schlichtweg eine Offenbarung, Musik, die ganz langsam und unaufdringlich Horizonte zu öffnen vermag. Mit Licks, die mich ein wenig an Warren Haynes' Interpretation von "Comfortably Numb" vor zwei Jahren bei der Mountain Jam erinnern. Keine schlechte Gesellschaft.

Nach einem letzten schönen Eingrätschen der Tubular Bells wechselt plötzlich die Atmosphäre der bis dahin irgendwie entspannt und freundlich kreiselnden Exkurse und es geht in "Mother Of Depth" in eine gänzlich neue Stimmung, die zu Beginn ein wenig von den geheimnisvolleren Parts aus Genesis' "The Lamb…" bereithält. Sprechgesänge nehmen nun in "Nyade" mehr und mehr Platz ein im Spektrum, Zitate wohl des Großmeisters Morgenstern.

"Suprema Lex", das übergeordnete Gesetz, ist dann ein weiteres Schlüsselwerk auf diesem Album. Zu Beginn fast ein wenig an Tom Tykwer und seinen faszinierenden Soundtrack zu "Winterschläfer" erinnernd (ja genau, der "Lola Rennt"-Regisseur hat damals auch massiv an der Musik mitgearbeitet) führt uns das Stück in eine finstere und bedrohliche Atmosphäre, die mich mit den versteckten Glockenschlägen und der metallenen Riffs fast so etwas wie mittelalterliche Greueltaten assoziieren lassen. Der Song eskaliert dann immer mehr in ein chaotisch aggressives Statement über die Missetaten des modernen Menschen – und eine ganze Reihe von Volksverhetzern und fehlgeleiteten Politikern werden hier zitiert.

Goebbels und sein »Wollt Ihr den totalen Krieg« erschüttert uns gleichsam wie die wohl zynischste Lüge der letzten 70 Jahre: »United States, as the world knows, will never start a war«. Ob JFK an die Wahrheit seiner These tatsächlich geglaubt haben mag? Ein Abriss unserer Geschichte, einer Welt des modernen Menschen, die einen erschaudern lässt. Ganz toll immer die spieluhrartigen Kontrapunkte und zarter Kindergesang, die den Verrätern unserer Gesellschaft auf schmerzlich unschuldige Weise gegenübertreten. Ein Stück wie ein Appell, endlich mal mit dem Mist aufzuhören, dessen sich gerade in diesen Tagen wieder einmal ganz viele selbsternannte Führer schuldig machen. Wie sehr mag ich solche Intentionen unterstützen. Die Welt ist kein Schachbrett für pervertierte Eliten und geldgeile Warlords, das Leben ist ein Geschenk an alle. Der Song führt Anklage gegen alle Kriegstreiber und Verführer, wie schon einst Dylans "Masters Of War". Schön, dass solche Botschaften von unserer Kultur ausgehen.

Folkige Töne und eine schöne Bass-Meditation bilden kleine Interludes, dann erreichen wir ein finales Meisterwerk auf diesem Album. "The End Of Dithyramb" mit dem zunächst fast orientalischen Auftakt und der meisterlichen Geige birgt eine kompositorische Stärke, wie ich sie in dieser Form ehe bei meinem norwegischen Lieblings-Jazzer Terje Rypdal zuletzt gehört habe. Doch dann gewinnt der Prog das Feld zurück. Manchmal fast Focus geschwängerte Flötentöne und immer wieder diese hinreißende Geige, nun sehr verträumt über klassisch akustischer Gitarre lässt uns schwelgen, treiben, träumen.
Positiv gestimmte, austreibende Melodien wie aus den Marillion-Keyboards eines Mark Kelly bringen uns zum anstehen Finale tempomäßig auf Trab und das herrlich forsche und auskeilende Schlagzeug befeuert die freudigen Instrumentalisten mit immer wilderen Rhythmen und Anstößen zur Improvisation, eine musikalische Eskalation auf höchstem spieltechnischen Niveau. Eine nun wieder alles beherrschten Gitarre kulminiert zur großen Freude des Zuhörers in einem Feuerwerk der progressiven Rockmusik, fast wie ein Kommentator, der das wilde Geschehen um sich herum beschreibt. Ein zurückgenommenes Outro mit reflektierenden Gitarrenklängen und schelmischen Keyboards gibt uns am Ende ein gutes Gefühl, dass die Welt eben doch auch ganz schön sein kann. Da passt die kurze saitentechnische Jazz-Phrasierung trefflich in die Szenerie, coole Effekte reflektieren zum Ende hin noch einmal die Möglichkeiten der Protagonisten, die sich auf dem gesamten Album die Seele aus dem Laib gespielt haben.

"Morning Star" beinhaltet alles, was man sich von intelligenter, leidenschaftlicher progressiver Musik erhofft. Faszinierende Melodien, ekstatische Ausbrüche, wilde Gitarren und geheimnisvolle Soundlandschaften, vorangetrieben von einem losgelösten Schlagmann. Dazu ein historisch verbindendes Thema mit allerlei gesellschaftlichen Anspielungen. Diese Reise zum Ursprung der Dinge ist wahrlich gelungen, ein bärenstarkes Album voller Inspiration und musikalischer Ausdruckskraft.


Line-up King Of Agogik:

Hans-Jörg Schmitz (drums, percussion, keyboard, guitar, bass)
Dago Wilms (guitar, bass)
Gary Farmer (bass)
Steve Unruh (flute, violin)
Pantelis Petrakakis (bass)
Andrew Marshall (spanish guitar)
Philipp Schmitz (keyboards, piano, voice)
Peter Simon (woodwinds)
Eric Vaxjö (mellotron)
Chip Greymillion (keyboard)
Scott Taylor (ulliann pipe)
Kathrin Daniel (voice)
Viktoria Papen (voice)
Dago Wilms (guitar, bass)
Gary Farmer (bass)
Steve Unruh (flute, violin)
Pantelis Petrakakis (bass)
Andrew Marshall (spanish guitar)
Philipp Schmitz (keyboards, piano, voice)
Peter Simon (woodwinds)
Eric Vaxjö (mellotron)
Chip Greymillion (keyboard)
Scott Taylor (ulliann pipe)
Kathrin Daniel (voice)
Viktoria Papen (voice)

Tracklist "Morning Star":

  1. Veils Open
  2. The Unavoidable Wayfare …
  3. … To The Place Of Origin
  4. Mother Of Depth
  5. Nyade
  6. The Art Of Make-Up
  7. Suprema Lex
  8. Ignes Fatui
  9. A Visit To The Mouse Barber
  10. The Ende Of Dithyramb
  11. Curtain Call

Gesamtspielzeit: 70:15, Erscheinungsjahr: 2016

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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