Klingt Dieter Böhm wie ein typisch deutscher Musikfan?
Zumindest für französische Musiker?
Lazuli-CDs sucht man bislang in meinem Plattenschrank vergebens. Dabei bin ich in den vergangenen Jahren beim Anbieter meines Vertrauens für progressive Platten, der bei diesem Werk auch als Promoter mitmischt, immer wieder über die enthusiastischen Beschreibungen gestolpert, mit denen die Heldentaten der fünf Franzosen begeistert beschrieben wurden. Dass es nun ausgerechnet ein Konzeptalbum ist, das mir den Zugang zu Lazuli vermittelt, ist eine zusätzliche Freude. Ich liebe diese Form der Musik, die sich aus einem zusammenhängendem Konzept generiert.
Um die Einzigartigkeit der Musik von Lazuli im Allgemeinen und die Metapher des Album-Titels im Besonderen nachzuvollziehen, lohnt ein kurzer Blick auf eine ganz und gar außergewöhnliche Geschichte. Herzstück von Lazuli sind unzweifelhaft die Brüder Claude und Dominique Leonetti, doch das Leben von Claude nahm eine für einen Gitarristen dramatische Wendung, als er durch einen Motorradunfall plötzlich den linken Arm nicht mehr bewegen konnte. Doch wie sehr aus einem scheinbaren Schicksalsschlag ungebrochene Kreativität erwachsen kann, bewies Claude, in dem er ein völlig neues, eigenes Instrument entwickelte, das auf seine Bewegungsmöglichkeiten abgestimmt war. Was für eine große Vision gerade in Tagen der Krise. So entstand die Léode, eine Mischung aus Gitarre (ohne Saiten), Keyboard (ohne Tasten) und einer melodiösen Säge. So beschreibt Claude selbst seine Kreation, optisch dem Chapman Stick ähnlich, dem wir auf den Spuren der Touch Guitar begegnet sind.
Doch es ist nicht nur ein überaus exotisches Musikinstrument, das die Authentizität und das Alleinstellungsmerkmal von Lazuli definiert. Diese Band versteht es auf einzigartige Weise, progressiven Rock mit folkloristischen Anleihen aus der Heimat Frankreich mit avantgardistisch, modernen Sounds anzureichern. Ein bisschen Ethno oder Weltmusik, dazu die mitreißend gefühlvolle Stimme von Dominique Leonetti, der dem Ensemble einen wunderbar melancholischen Ausdruck verleiht. So entsteht ein Klangkosmos von fast unwirklicher Schönheit, befruchtet aus dem Herzen klassischer Chansons, herausgelöst und emporgeführt in eine Welt progressiver Rockmusik, wie ich sie in dieser Form noch nie gehört habe. Wow, meinen tiefen Respekt vor soviel Eigenständigkeit.
Wie bereits beschrieben liegt dem Album ein übergreifendes Konzept zugrunde, eben der fantastische Flug des Dieter Böhm, wer immer er ist, der schnurrbärtige Typ auf seinem Monstervogel, so wie das verrückt schöne Cover ihn zeigt. Das umfangreich gestaltete Booklet klärt uns auf: Auf einer wüstenartigen Insel pflanzt ein Musiker eine Note. Diese wird zu einer Melodie, zu einem Lied und das wirft unser Held einer Flaschenpost gleich in die Wellen, um es der ganzen Welt zu schenken. Dass dies eine Metapher auf Interaktion zwischen der Band und ihrem Publikum darstellt, wie sie in Live-Acts der Band wahrhaft zelebriert zu werden scheint, weiß nicht nur das Informationsmaterial zu berichten, es liegt angesichts der Songtexte auf der Hand und viele Menschen verstehen den typisch deutschen Namen Dieter Böhm als einen Hinweis darauf, dass die Band sich ihrer zahlreichen deutschen Fans besonders bewusst ist. Was für ein hinreißendes Dankeschön von Musikern an ihre Anhängerschaft.
Das inzwischen neunte Studioalbum von Lazuli ist aufgebaut wie ein klassisches Werk, zwischen Prolog und Epilog werden vier Akte gestaltet. Die Musik nimmt von Beginn an durch ihre eigenartig geheimnisvolle Melodik gefangen, stets geführt und verkörpert durch einen verstörend ausdrucksstarken Gesang, ganz besonders mitreißend in "Les Chansons Sont Des Bouteilles À La Mer", etwa »Lieder sind die Flaschen im Meer.« Und diese Flaschenpost kommt an bei jedem, der bereit ist für eine außergewöhnliche Interpretation progressiver Musik. Und wenn die Léode so schwelgend zu sägen beginnt, dann türmen sich die Wogen des Meeres auf und umtosen uns mit mitreißend ekstatischen Wellen geiler Musik.
Für einen kurzen Auenblick fühle ich mich in dem Moment, wenn die wilden Wasser sich beruhigen, in einem Stimmungsspektrum gefangen, wo einst Marillion in "Brave" zu einer ähnlich furiosen Reise aufbrachen, doch der fantastisch authentische Gesang kreiert sogleich seine eigene Atmosphäre, die keine Vergleiche mehr hergibt. Lazuli sind nur Lazuli. Punkt.
Dieter Böhm, unser merkwürdiger Flieger, lebt in der Folge seinen Traum, den ewigen Traum der Menschheit vom Fliegen und er dringt dabei tief in die Musik ein, verschmilzt mit ihr, so wie die Musik von Lazuli bei ihren zahlreichen Fans seit vielen Jahren intensiv Einzug hält. Kann eine Band ihren Bewunderern eine schönere Botschaft zukommen lassen? Im dritten und vierten Akt erinnert die Melodic mitunter ein ganz klein wenig an Floydsche Themen. Hier und da kreuzen sich dann doch ein paar Wege, wenngleich sich diese Verwandtschaft auf Nuancen und weitgehend Gitarren geprägte Passagen beschränkt. Die wunderbaren französischen Gesänge halten die spezielle Ausprägung von Lazuli selbst in diesen Passagen hoch. Vielleicht hätte Edith Piaf so geklungen, wenn sie mit David Gilmour liert gewesen wäre? Was für eine Vorstellung!
Und wie es sich in einer klassisch aufgebauten Rockoper gehört, korrespondieren Prolog und Epilog in ihrem Thema und bilden den Bogen zu einem sinnvoll passendem und abgerundeten Ganzen. »Les chansons sont des bouteilles…«, die zentrale Aussage des Albums, aufgegriffen in der letzten Nummer, klingt nicht nur wie ein Bildnis auf die Geschichte dieser Musik, sie bietet einen geradezu sinnlichen Querverweis auf das, was vielen von uns im Savoir Vivre am Herzen liegt. 'Les bouteilles de vin francaise' zu genießen kann durchaus ähnlich befriedigen wie der Genuss einer tollen Schallplatte. Für mich sind beide schon immer untrennbar miteinander verbunden und Lazuli erinnern mich auf besonders sympathische Weise daran.
Ich hatte in 2020 schon sehr viel Glück, außergewöhnliche und höchst unterschiedliche Projekte kennen lernen zu dürfen. Lazuli entwickeln eine Lyrik und Sinfonie aus Klängen und Gesang, wie ich sie so noch nie zuvor erlebt habe, ein zutiefst beglückendes Erlebnis. Es wurde Zeit, auf diesen Zug aufzusteigen, fortan bin ich dabei!
Line-up Lazuli:
Claude Leonetti (léode)
Gédéric Byar (guitar)
Romain Thorel (keyboards, french horn)
Vincent Barnavol (drums, percussion, marimba)
Dominique Leonetti (vocals, guitar)
Tracklist "Le Fantastque Envol De Dieter Böhm":
- prologue
- Sol
acte 1:
- Les Chansons Sont Des Bouteilles À La Mer
- Mers Lacrymales
acte 2:
- Dieter Böhm
- Baume
acte 3:
- Un Visage Lunaire
acte 4:
- L’Envol
- L’Homme Volant
- epilogue
- Dans Les Mains De Dieter
Gesamtspielzeit: 42:43, Erscheinungsjahr: 2020
3 Kommentare
Steffen Nitzsche
22. August 2022 um 9:00 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Ich durfte die Band jetzt zum ersten Mal Live erleben, sie war mir unbekannt und ich war sehr überwältigt von soviel Kreativität, Spielfreude und musikalischer Qualität. Die LP musste natürlich sofort ins Archiv. Ich kann deine Worte nur unterschreiben. Oberklasse und sie heben sich von der Masse ab. Gut das es solche Bands noch gibt. Das ist mehr als selten.
Andrea Groh
22. August 2022 um 16:10 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Steffen,
mein Mann und ich haben Lazuli im Juli auf dem Night Of The Prog gesehen… und waren begeistert. Gleich dort noch die LP (die hier besprochene "Le Fantastque Envol De Dieter Böhm") gekauft – später mehrere ältere CDs, wobei eine Steigerung bis zu der "Dieter Böhm" erkennbar ist, wobei auch der Vorgänger klasse ist.
Ich / wir können Deinen Eindruck voll bestätigen, auch was die Live Perfomance angeht.
LG
Andrea
Steffen Nitzsche
24. August 2022 um 8:17 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Andrea, schön das du mir zustimmst.
Wenn man viel auf Livemuggen ist, wird man ja auch mit der Zeit etwas anspruchsvoller oder etwas abgestumpfter. Klingt komisch. Aber bei Lazuli muss man sagen, das war mal wieder etwas was sehr hängenbleibt und Lust auf mehr macht. Die LP bestätigte das nur doch. Da kann man wiedermal sagen….Eine positive Überraschung was die Erwartungen weit übertrifft. Und das gibt auch Kraft für die Zukunft das Hobby weiterzuleben.