Wenn das Label Sireena vorliegendes Album als »Zeitdokument« bezeichnet, so ist das sicher absolut korrekt, denn Lebensgemeinschaften wie die Land- und Musikkommune Lord’s Family gibt es wohl nicht mehr. Dank des ausführlichen Booklets erfährt der Hörer viel über die Kommune. Wie sie zusammenfanden, was später aus ihnen wurde und dass sie bereits grün und ökologisch dachten, als es Die Grünen als Partei noch nicht einmal gab.
Das gemeinsame Musizieren war nur ein Teil der Familie; die war auch eine Landkommune und hatte sich als solche völlig vom Mainstream außerhalb ihres Refugiums, dem Schlössel im Altmühltal, losgelöst. Ihre Philosophie war breit gefächert und beinhaltete Religion, Politik und auch Mystik. Von Jesus über Buddha, Wilhelm Reich, Karl Marx, Hendrix und Mozart, fernöstlicher Spiritualität, Christlichem (daher auch der Name 'Familie des Herrn'), kosmischem Gedankengut und nicht Festhalten an traditionellem Musizieren, reicht das behandelte Spektrum ihres Outputs, den man mit diesem Album erfassen kann.
Einem Album, das nun alle vorhandenen Audioaufnahmen der Kommune beinhaltet. Dass es anfangs der Siebziger eher ungewöhnlich war, Rockmusik in deutscher Sprache zu spielen, schrieb ich bereits im Review zu Innere Musik, meiner ersten Begegnung mit der Kommune. Die Aufnahmen zu vorliegendem Album stammen von Bändern aus Sepp Kuffers Privatbesitz. Das Label schreibt, dass die Aufnahmen des Alters der Bänder wegen »rau« seien »und nicht immer den Hörgewohnheiten der heutigen Zeit entsprechen«. Klar, highfidele Ansprüche kann und darf man nicht erwarten, aber ich behaupte einmal, eine State of the Art-Produktion würde den "Schlössel Recordings" die Seele rauben, würde der Musik nicht gerecht werden und die authentische Patina zerstören. Und – die Aufnahmen empfinde ich persönlich durchaus als gut. Zumindest, solange man nicht mit Überlautstärke hören möchte.
Wenn "Inventions" startet, weiß man sofort, dass hier Musik aus einer Zeit läuft, in der Kraut nicht nur eine Musikrichtung war, sondern es auch qualmte. Es wird auch gleich klar, dass es so etwas wie Songwriting eher nicht gibt, sondern gemäß der Bandphilosophie alle Spieler ihren passenden Part beisteueren. So schiebt sich in einen sphärischen Jam schon mal vorlaut eine Blues Harp. Die Sitar zu Beginn vom "Abendlied" hat keine Probleme mit den gesprochenen Worten, die von fast mittelalterlich wirkendem Folk umrahmt werden.
In "Begegnungen" hören wir von Sokrates, Schopenhauer, Karl Marx, Siegmund Freud, vom lieben Gott und vielen anderen. Unkeuschheit, Wehrpflicht, Wirtschaftswunder werden erwähnt; eingebettet in einen psychedelischen Jam, der auch etwas Doors-Feeling freisetzt. Da die Texte in deutscher Sprache vorgetragen werden, ist es empfehlenswert, selbigen auch zu lauschen, auch wenn die treibende Musik gerne ablenkt: herrlich, wenn die Trompete sich plötzlich dazu schleicht – zum pumpenden Bass, den wirbelnden Drumsticks und den flirrenden Keys.
"Das Weltall" zeigt die Klasse der Musiker, denn der überwiegende Teil hat eine diesbezügliche Vergangenheit. Durch die Länge der Stücke, haben sie auch alle Freiheiten, in die Minuten hinein zu jammen. Mit 17 Minuten ist das "Landlied" das längste Einzelstück, nur getoppt von den fünf ’nächtlichen Erkundungen', die zusammengenommen etwas mehr Spielzeit aufweisen. Aber erst einmal gilt es das "Landlied" mit seinen Wechseln aus chorhaftem Gesang und ungestümem Jam zu genießen. Die Nummer ist als Bonustrack noch einmal vorhanden – allerdings nur halb so lang und unter dem Namen "Gebt uns ein neues Land". Die Bonusversion ist weniger jammig, sondern eher folkig angelegt, was ich sehr interessant finde, denn es zeigt, dass ein Stück durchaus mehrere Spielmöglichkeiten zulässt.
Das zweite Bounsstück hört auf den Namen "Mädchenlied" und ist relativ folkig und Streichinstrument-dominiert. Der Reigen der "Nocturnal Explorations" lebt von Improvisationen, die sich einem Grundrhythmus hingeben und den Musikern viel Raum geben, in andere Dimensionen abzudriften. Allerdings entsteht kein Wirrwar, denn der berühmte Faden ist stets vorhanden. Mal läuft es wie ein gut geschmierter Schiffsdiesel, dann wie in einer uralten Werkstatt, in der die alten Meister ihre noch älteren Maschinen laufen lassen und eine Alien-Kommandozentrale wäre sicher auch keine falsche Referenz. Man sieht die Familienmitglieder förmlich vor sich, wie sie des Nachts in der Umgebung des Schlössels liegen, den Nachthimmel beobachten und später zu Hause ihre Gedanken und Gefühle in Musik fassen. Diese Art von Musik kann man wohl kaum exakt erneut spielen, sie scheint dem gerade stattfindenden Moment zu gehören und genau das macht sie so besonders.
So besonders wie die 'Familie des Herrn'. Sie war damals etwas Besonderes, diese Land- und Musikkommune und heute, im Zeitalter des globalen Overkills in fast allen Disziplinen, ist sie es umso mehr. "The Complete Schlössel Recordings" ist die Medizin um runterzukommen und wenigstens einen kleinen Teil des damaligen Spirits zu inhalieren.
Das Line-up der Family ist im Booklet nicht aufgeführt, aber ich denke, wenn ich die Besetzungsliste von "Innere Musik" benutze, ist nicht viel falsch gemacht.
Line-up Lord’s Family:
Ebo Petschel (dr)
Georg Frisch (eb)
Alfons Schmid (git)
Gottfried Rimmele (vl)
Martin Seliger (ts, fl)
Ali Schmidt (lead git)
Barbara Rimmele (fl, perc)
Ruth Marschall (perc)
Sepp Kuffer (org, p)
Gitti Fleck (perc)
Michael Ostarek (Sprecher)
Peter Sturm (perc)
Tracklist "The Complete Schlössel Recordings":
- Inventions (4:30)
- Abendlied (4:02)
- Begegnungen (11:05)
- Das Weltall (8:35)
- Landlied (16:58)
- Nocturnal Explorations 1 (6:44)
- Nocturnal Explorations 2 (2:58)
- Nocturnal Explorations 4 (1:46)
- Nocturnal Explorations 6 (3:08)
- Nocturnal Explorations 7 (3:33)
- Gebt uns ein neues Land [Bonus] (8:53)
- Mädchenlied [Bonus] (4:09)
Gesamtspielzeit: 76:11, Erscheinungsjahr: 2021 (1971-1974)
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