«

»

Lou Reed / Rock’n’Roll Animal – LP-Review

Lou Reed / Rock'n'Roll Animal

Kann es sein, das eines der berühmtesten Intros in der Geschichte der Rockmusik bis heute in unseren Archiven fehlt? [Die Platte existiert, aber lediglich im Kontext der Original Album Classics 3 – die Redaktion]

"Rock’n’Animal" hab ich in den späteren Siebzigern als gebrauchte Platte von einem Arbeitskollegen meines Vaters bekommen, der permanent knapp bei Kasse war und nach und nach sein herrliches Plattenimperium versilberte. Es hat mich schon beim ersten Anhören völlig umgehauen. Hier ist meine Corona-Krise-Bewältigung Teil 2 mit Rückgriffen auf ganz alte Sachen, die mich einst berührt haben und die das auch heute noch schaffen.

Damals kannte ich die Originalversionen der Velvet Underground, beispielsweise eben zu "Sweet Jane", überhaupt noch nicht, ich war ein Dreikäsehoch, der erst am Anfang seiner rockmusikalischen Erfahrungen stand und eine ganze Menge von Jahren aufzuarbeiten und aus der Vergangenheit zu lernen hatte. Als Arbeiterkind mit spärlichem Taschengeld und ohne die heute omnipräsenten Medien damals kein so leichtes Unterfangen. Doch wie gesagt, jene unfassbaren ersten Minuten auf dem Weg hinein in das Album, wo der gurgelnd und murmelnd groovende Bass die beiden Gitarren wie Drachen steigen lässt, die in einem wüsten Wind hin und her treiben, sich verwirbeln und wieder auseinander fliegen – da ging schon dem kleinen Michel die Gänsehaut über die Nackenmuskeln und mir war damals schon klar, dass ich es mit etwas Besonderem zu tun hatte.

Aber da hatte ich noch keine Ahnung, dass ich mit "Heroin" die ultimative Version eines destruktiv mitreißenden, in seiner Intensität alles erschlagenden Meisterwerks vor der Brust hatte. Die knallharte Präsenz der Musik, die Dramatik des Textes und Lous abgefahren schräger Gesang verstörte den wohlerzogenen Jungen aus der Wedau damals bis aufs Blut. Doch die Magie dieser zerstörerischen Visionen brannten sich tief in die Hirnrinde und je älter ich werde, umso mehr fasst mich dieser Song an. Archaische Gitarren, wilde dramatische Steigerungsläufe und immer wieder dazwischen die hypnotischen Breaks zurück in tiefen Sumpf, einmal mit fast klerikaler und sehr geiler Orgel, dann die immer wiederkehrenden Anläufe, die am Ende zu einem gigantischen Gitarren-Freak-Out hochgepumpt werden, bei dem selbst der cleanste und nüchternste Zuhörer über die Stränge schlagen wird. Will man die dunkle Seite der Rockmusik irgendwie charakterisieren, kann man sich kluges Geschwafel ersparen, man muss einfach nur dieses Lied spielen. Es wird seine Wirkung nicht verfehlen. Diese Version gehört in die Top Ten der Best Songs Ever und wenn die Welt untergeht, dann hoffe ich, dass ich dreizehn Minuten vorher noch Zeit habe, um die Nummer noch einmal zu hören. Mit diesem Meisterwerk aus den Tiefen der Hölle kann man getrost in die ewigen Jagdgründe übertreten.

Das Konzert wurde am 21.12.1973 in Howard Stein’s Academy Of Music, New York, aufgezeichnet und auf der Originalversion, die hier besprochen wird, fanden sich insgesamt fünf Tracks, vier davon aus der Schatztruhe von The Velvet Underground. Nur "Lady Day" stammt aus der Vorgängerscheibe "Berlin", ein Konzeptalbum, bei dem man Lou Reed unterstellte, er habe sich in der Komposition ein Stück weit verhoben. Doch eben aus diesen negativen Vibes entwickelte der Künstler eine Antwort, die in der ganzen Welt wahrgenommen wurde. Das Tier ist zurück, "The Rock’n’Animal", nomen est omen, ein clever gewählter Titel!
Deep Purple schlugen einst nach dem Ausflug in die Klassik mit "Deep Purple In Rock" zurück, kann man schon mal so machen.

Mit Steve Hunter und Dick Wagner stellte Lou sich die beiden Gitarristen an die Seite, die später das Gerüst der Alice Cooper Band bilden sollten. Diese Besetzung stellte sich im Nachhinein als Glücksgriff dar. Der herrlich schräge Gesang eines Lou Reed – der den Punk schon zehn Jahre vor seiner Entstehung beherrschte – über dem Kreuzfeuer dieser anarchischen Saitenschützen ergab damals eine zündende Mischung, wie sie nur ganz selten einmal auf der Bühne gelingt. Seltsamerweise klingen die Nummern, die ein Jahr später auf "Lou Reed Live" veröffentlicht wurden und die aus dem gleichen Konzert stammen, erheblich blasser und weniger energetisch. Es scheint fast so, dass der Meister besonders bei den Velvet Underground-Nummern zur Glanzform auflief – und die sind weitgehend auf der ersten Veröffentlichung enthalten.

"White Light/White Heat" ist ein kompakter Kracher unter permanentem Volldampf und mit wilden Slide-Fahrten, nächste Abfahrt runter vom highway to hell, denn sonst überhitzt am Ende noch der Motor. Und tatsächlich bietet die "Berlin"-Nummer "Lady Day" tatsächlich ein erstaunliches Friedensangebot mit gemäßigtem Tempo und fast so etwas ähnlichem wie Harmonien, wenn die melodischen Gitarren in den Breaks schwindelerregende Höhen erklimmen, während die Keyboards brav zurückgenommen und melancholisch im Hintergrund grummeln. Das reflektierende Gitarrensolo setzt aber noch einmal einen kurzen Gänsehaut-Aspekt, dann ist schon Zeit für den Rausschmeißer, und das ist kein geringerer als eine der berühmtesten Velvet Underground-Kompositionen, pur und simpel betitelt "Rock’n’Roll". Wenn man mal von einigen Dylan– und Bluesklassikern absieht, dürfte dieses Liedchen wohl einer der meistgecoverten Songs in der Geschichte der Musik darstellen – vielleicht ja auch, weil es so schön und einfach auf den Punkt bringt, worum es uns allen geht. Meine absolute Lieblingsversion hat einst Mitch Ryder auf seinem Live-Album "Red Blood, White Mink" geschaffen. Mitch, der eigentlich William heißt und eine ähnlich verwegene Aura ausstrahlt wie einst Lou Reed. Das zitierte Album wäre übrigens auch ein bestens geeigneter Spaßfaktor für Quarantäne-Tage, ein geniales Live-Konzert mit dem besten Mitch Ryder, den es je gegeben hat. Schau’n mer mal.

Wenn hier zum Ende des Songs die Gitarren shuffleartig entspannt grooven, dann darf Prakash John seinen funkigen Bass ein wenig ausufern lassen und wir erfreuen uns an der vorübergehenden Leichtigkeit dieser Passage. Dann wird das Gaspedal noch einmal durchgetreten auf volle Beschleunigung und schon ist eine Vinyl-Spielzeit erschöpft und Musikgeschichte geschrieben.

Im Angesicht der Exaltiertheit unserer Tage ist es vielleicht ein ganz gutes Konzept, ein wenig in den alten Scheiben zu stöbern. Wie sagte schon Otto so schön in seiner Predigt zum Wort zum Montag: »Doch als ich neulich in meiner Musikbox blätterte, stieß ich auf folgende kleine Zeile.«
Das, was er fand, war Vicky Leandros, doch deren Platten dürften sich in den Sammlungen von RockTimes-Lesern und -Schreibern eher selten befinden.


Line-up Line-up:

Lou Reed (vocals, guitar)
Steve Hunter (guitar)
Prakash John (bass)
Pentti Glan (drums)
Dick Wagner (guitar, vocals)
Ray Colcord (keyboards)

Tracklist "Rock’n’Animal":

  1. Intro/ Sweet Jane
  2. Heroin
  3. White Light/White Heat
  4. Lady Day
  5. Rock’n’Roll

Gesamtspielzeit: 39:54, Erscheinungsjahr: 1974

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

Beiträge im RockTimes-Archiv

Über mich

News

8 Kommentare

Zum Kommentar-Formular springen

  1. Manni

    Ja Michael, ohne Fehler kein Leben…

    es ist mir noch ein anderer passiert: Dre Remasterversion von Rock’n’Roll Animal ist nicht 117, sondern ca 87 Min. lang (und hat damit mehr als doppelte Spielzeit als die LP)

    Freu mich schon auf deine Sicht des Neil Young. Everybody knows this is nowhere, somewhere down by the River you’ll find the Cowgirl in the Sand. 🙂

  2. Manni

    Michael, da hast eine richtig geile Scheibe aus dem Regal gezogen! Alle das 8 Min. lange Intro wär schon den Preis wert. Auf Allmusic.com schrieb einer dazu:

    "Loud Reed Intro/Sweet Jane – This is how to open a show. Almost 4 minutes of intro, the prelude to the arrival of some rock n roll emperor, who is, and over 4 minutes this sinks in, in absolutely NO hurry to see the audience. You had to give them time to take a piss, hit their joints and adjust their hair. They don’t know how to behave in public, so they’re being given PLENTY of time to figure out where their seats are.
    The intro itself is wonderful, the two guitars trading the spotlight while Lou hangs out offstage making it clear who’s waiting and who doesn’t give a shit. You and him. And you paid for this.

    It’s the most PASSIVE AGGRESSIVE moment in rock and it tells you the meaning of New York and modern life. Applause rises up over the music, telling you he’s finally arrived onstage, and then it’s deadpan Lou 'Standing on a corner…'

    Everything you need to know about not giving a fuck is in this song."

    Die Platte gibt’s als Remaster und mit 117 Min. fast doppelter Spielzeit, hier die Tracklist:

    01. Intro-Sweet Jane – 8:19
    02. How Do You Think It Feels – 3:45
    03. Caroline Says I – 3:57
    04. I’m Waiting For The Man – 4:00
    05. Lady Day – 3:44
    06. Heroin – 12:53
    07. Vicious – 5:59
    08. Satellite Of Love – 5:55
    09. Walk On The Wild Side – 4:58
    10. Oh Jim – 10:39
    11. Sad Song – 7:30
    12. White Light White Heat – 5:04
    13. Rock ’n' Roll – 10:08

    Übrigens gibt es von Rock ’n' Roll eine andere geile Live-Version in komplett anderem Arrangement. Auch die ist schweißtreibend; zu finden auf "Red Blood White Mink" von Mitch Ryder.

    1. Manni

      Gestern Review gelesen und erst heute den Kommentar verfasst – da passiert es, dass ich was schreibe, was ja schon in deinem Text steht:

      Die Version von Mitch Ryder!

      1. Michael Breuer

        Kein Problem, Manni. Ich hatte zuletzt einen Satz für eine andere Review geschrieben, bei dem ein kompletter Teilsatz fehlte. Ich hatte es wirklich nicht bemerkt, Ilka zum Glück schon.
        Bezüglich Mitch Ryder kann ich Dir aber schon mal verraten, dass die zitierte Scheibe als Corona-Pausenfüller Nr. 5 kommen wird, da sind ja noch ganz andere fantastische Songs drauf, "Freezin' In Hell" ist wohl mein größter Favorit, "Red Scar Eyes" ist auch eine Wolke.
        Vorher gibt es aber auch noch ein bisschen Neil Young!

        1. Manni

          Michael, noch was zu deiner These, es sei ein gutes Konzept, in alten Platten zu stöbern:

          Damit hast du so was von recht, bei mir aktuell z..B. die "Medusa" von Trapeze (1970) oder auch das erste Album von Toad, der damaligen Hard Rock Institution aus der Schweiz. (1971)
          Und unzählige andere. Hab gerade heute die remasterte und erweiterte "Phenomenon" (1974) von UFO bekommen und erwarte bald die "Take no Prisoners" (1976) vom Uriah Heep Mitbegründer und wegen Alkoholsucht aus der Band gefeuerten David Byron. Auf seinem Album spielen aber alle Heeps mit und es klingt wie eine weitere hervorragende Heep-Scheibe.
          Man denkt es nicht, aber es gibt in den alten Schätzen immer noch was zu entdecken. Zumindest denen, die man durch Lebensjahrzehnte nicht zu Tode genudelt hat. 🙂

          1. Markus

            Jau, Manni, die "Medusa" ist der absoluter Hammer und ein echter Tipp. Lohnt sich alleine schon wg. "Black Cloud", aber ist durchgehen hervorragend und eigentlich auch ein Klassiker.

            Und "Phenomenon" steckt wenn die vielleicht nicht alles, dann aber doch zumindest fast alles andere aus der damaligen Zeit locker in die Tasche. Ein Hammersong nach dem anderen, wobei mir auch immer die ruhigeren Nummern wie "Time On My Hands", "Crystal Light" und "Space Child" ganz besonders gut gefallen haben, von "Lipstick Traces" ganz zu schweigen. Und eine meiner absoluten Lieblings-Nummern von UFO überhaupt: "Too young To Know"!!!

            Ich hab mir in den letzten Wochen mal wieder "Once In A Blue Moon" von Frankie Miller, "Welcome To The Canteen" von Traffic oder auch "Electric Indian" von Dull Knife intensiv reingezogen. Klar macht das einen Riesenspaß, mal wieder in der eigenen Sammlung zu kramen und sich durchzuhören 🙂

    2. Markus

      Booah, krasser Sch…, da warte ich doch schon ewig drauf!!!. Erst vor kurzer Zeit hab ich noch zum Michael gesagt, dass es perfekt wäre, wenn es eine von der Soundqualität gleichgute Version gäbe, auf der "R’n’R Animal" und die "Live" (auf der die zusätzlichen Songs desselben Abends enthalten sind) zusammengefasst sind. Scheint mir echt durch die Flossen gegangen zu sein!?!

      Und wo gibt’s die, Manni?? (konnte sie zumindest nach einem Schnell-Check nicht finden…)

      LG,
      Markus

      1. Manni

        Die erweiterte Remasterausgabe kam 2000 oder 2001 auf den Markt. Scheint momentan out of print zu sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>