Magenta feierte im Mai 2019 das 20.jährige Band-Jubiläum mit einem ausverkauften Gig im Arlington Arts Centre und die Progger verstärkten sich mit dem ein oder anderen Gast.
Wer (wie ich) bislang noch keine Berührung mit der walisischen Formation gefunden hat, dem mag man die neo-progressiven Rocker von IQ nennen, um eine grobe Vorstellung von Magentas Musik zu bekommen. Vor allem aber wird man bei der Reise durch das Konzert und die zwei Dekaden des Bandschaffens immer wieder auf legendäre Vorgänger der Vergangenheit stoßen, denn Zitate bekommen wir nicht gerade wenige zu Gehör. Eine Gitarre, die häufiger nach Steve Howe klingt, dann wieder ein bisschen wie Steve Hackett, um zuletzt Herrn Gilmour zu huldigen.
Auch der eine oder andere Gesangspart weckt gelegentlich Erinnerungen an Genesis oder gleich zum mehrstimmigen Auftakt glasklar an Yes, auch wenn hier an der Front eine Frau ihren Mann steht. Und wie! Christina Booth hat eine charismatische Stimme und Ausstrahlung, wie ich so nur für Annie Haslam und Renaissance in Erinnerung habe. Und deshalb, liebe Prog Rock-Freunde, darf ich wärmstens empfehlen, bei den genannten Zitaten nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen, weil womöglich ’nichts Neues' zu erwarten wäre – dem ist mitnichten so und das hat einen Grund: Magenta schreiben phantastische Songs, aufregend und voller Leidenschaft und Empathie. Auch deshalb sehe ich sie mit den Jungs von IQ auf Augenhöhe. Mitreißende Musik, die niemals vorhersehbar ist und immer wieder unkonventionelle Wege geht. Und so entsteht neben den unzweifelhaft erkennbaren Bezügen zu den Wurzeln eine wunderbare Einheit einer ganz eigenen, oftmals Gänsehaut erzeugenden Melodik, die getragen wird vom Dreiklang aus Chris Frys großartiger Gitarre, den wuchtigen Keyboards wie einem einfühlsamen Piano von Bandgründer Robert Reed und eben der überwältigenden Performance der Frontfrau. Musik, die von der ersten bis zur letzten Sekunde anfasst und bewegt. Schön, dass ich als alter Sack diese Bekanntschaft jetzt endlich gemacht habe.
Das Konzert erscheint als Doppel-CD und -DVD und ist angenehm zurückhaltend inszeniert. Keine wilden Kamerafahrten, keine übertriebenen Bühneneffekte, Minimalismus und Demut, die irgendwie in diese Tage der Dunkelheit passen. Eine große quadratische Videowand wird sehr eindrücklich in die Songs einbezogen, die Szenen und Darstellungen verstärken die Dramatik der jeweiligen Themen ganz erheblich, wie in "Tower Of Hope", wenn die Twin-Towers des World Trade Centers inszeniert werden. Glücklicherweise verfügen Magenta über die nötige Sensibilität, ein solches Thema nicht trivial anzufassen. Das macht es so bewegend.
Im ersten Set spielt die Band übrigens einen fast fünfzigminütigen Block ihres 2006er Albums "Home", was mich ein wenig an Pink Floyds Vorliebe erinnert, die immer wieder mal "Dark Side…" komplett aufführten. Und zum Schluss gibt es in dem abschließenden "The Warning" noch ein kraftvoll dynamisches Saiten-Feuerwerk, welches die Vorfreude auf Set 2 anheizt.
Dieser startet mit einer typisch hymnischen Nummer, doch die Stimmung wird eine völlig andere, wenn "Pearl" ansteht. Man mag es bei dem Titel schon ahnen, es handelt sich um eine Hommage an Janis Joplin, deren Gesicht jetzt den Screen im Hintergrund ziert. Still und unaufgeregt sehen wir Bilder ihres Lebens, während der hinreißend Blues getränkte Song wunderbar und angemessen respektvoll in einem sanftem Crescendo aufbegehrt und sich gleich wieder zurücknimmt. »I gave you my voice, I gave you my soul« singt Christina und Chris resumiert geslidet wie einst Steve Howe, wenn er sich durch die "Gates Of Delirium" gekämpft hat. Und Paul hat ein Tränchen im Auge.
Doch dann erreicht das Konzert einen dramatischen Höhepunkt, wie man ihn in dieser Intensität nur ganz selten erleben wird. "The Ballad Of Samuel Layne" behandelt die Geschichte eines Soldaten im ersten Weltkrieg. Die Bilder dazu werden auf der Videowand projiziert und interagieren mit einer real on stage gespielten Szene, wenn Sam als verstört verängstigter, junger Mann seinen Platz in einem stilisierten Schützengraben auf der rechten Seite der Bühne findet. Doch das Spotlight findet eine weitere Gestalt, ganz entgegengesetzt auf der linken Bühnenseite. Und wenn Christina, die die daheim vor Angst zitternde Freundin des jungen Mannes spielt, von ihrem Brief singt, den sie dem Liebsten gerade schreibt, sehen wir Sam, der zeitgleich den Brief liest und vor Verzweiflung ebenso wenig weiter weiß wie seine Freundin oder Frau. Ein Begleiter erscheint und beide begeben sich zögerlich auf Wachgang. Jetzt eskaliert die Musik in ihrem Ausdruck und uns wird eine Szene auf dem Screen dargestellt, die mit der gespielten Handlung der beiden interagiert. Sam ist schwer verletzt worden und wird durch seinen Freund gerettet, der am Ende erschossen wird. Ein ergreifendes Statement gegen den Irrsinn und die Unmenschlichkeit des Krieges, wie ich es in einem Konzert so noch nicht erlebt habe. Es ist die ungeheuer sensible Musik, die dieser Szene den angemessenen Rahmen verleiht. Wer angesichts eines solch tiefen und schwierigen Themas nicht das nötige Feingespür in die Komposition einbringt, würde schnell in unangebrachtem Pathos und populistischer Theatralik landen. Magenta bewältigen diesen Song meisterhaft und treffen jeden genau ins Herz, der sich das anhört und ansieht. Chapeau, mon amis.
Der epische Aufbau und die kunstvollen Breaks mit deutlicher Betonung der Flötentöne und repetitivem Piano in "The White Witch" lässt wohlige Erinnerungen an frühe Werke von Genesis wach werden, wobei die Gitarre deutlich im modernen Neo Prog verbleibt und deutlich näher beispielsweise an einem John Mitchell von Arena angelegt ist als bei Steve Hackett. Genau der aber wird noch ein Thema zum Ende des Konzerts. Auch dieser Song wird wieder durch schauspielerische Einlagen gestaltet, die hier ein wenig mystisch und beängstigend wirken, ganz dem Titel entsprechend. Die weiße Hexe halt, doch wirklich gruselig ist nicht dieselbe, sondern diejenigen, die sie am Ende von der Bühne geleiten und die Gedanken daran, was die nun mit ihr tun würden, wenn wir uns ein paar Jahrhunderte in der Zeit zurück beamen würden. Früher war alles besser stimmt eben sehr oft nicht!
Die Zugabe wird dann durch Mr. Hackett und seinen Geburtstagsgruß eingeleitet. Nein, nicht live, Steve spricht von der Vidi-Wall zu uns. Passend dazu spielt Magenta nun "Spectral Mornings", einen Song des Ex-Genesis-Gitarristen und Christina lässt sich durch David Longdon von Big Big Train zu einem Duett bitten. "The Lizzard King" ist dann noch einmal Neo Prog pur und das Keyboard gleich zu Beginn hätte so auch bei Marillion in den Achtzigern klingen können. So endet ein bemerkenswertes Live-Erlebnis mit einem retrospektiven Blick auf eine Band, die auf sehr geschickte Weise die Wurzeln des progressiven Rocks in die Moderne holt und damit einen ganz eigenen Stil kreiert.
Die mitreißende Performance und die musikalische Qualität ist über Zweifel erhaben und macht ganz viel Spaß. Wer Prog mag wird auf seine Kosten kommen, mich hat dieses Album glücklich gemacht.
Line-up Magenta:
Christina Booth (vocals)
Robert Reed (keyboards, piano)
Chris Fry (guitar)
Jiffy Griffiths (drums)
Dan Nelson (bass)
with
Simon Brittlebank (orchestral percussion)
Katie Axelson (flute)
Karla Powell (oboe)
special guests
Peter Jones (saxophone, guitar, flute, backing vocals)
David Longdon (vocals)
Tracklist Angels And Damned – 20th Anniversary Show":
CD1
- Opus 3
- Gluttony
- This Life
- Hurt
- Moving On
- Towers Of Hope
- Demons
- Morning Sunlight
- The Dream
- The Visionary
- Journey’s End
- Lightspeed
- The Warning
CD2
- Trojan
- Pearl
- The Ballad Of Samuel Layne
- Red
- The White Witch
- Spectral Mornings
- The Lizard King
Gesamtspielzeit: 70:35 (CD/DVD 1), 70:21 (CD/DVD 2), Erscheinungsjahr: 2021
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