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Manescape / Antibodies – Digital-Review

Manescape / Antibodies

Vielseitige und vielschichtige Musik findet man oft dort, wo Medien keinen Mainstream wittern und sich erst einmal in Zurückhaltung üben. So bedurfte es für mich angesichts des hier zu besprechenden Albums eines guten Wegweisers. Das war niemand anderes als Piotr Kowalski von Glasgow Coma Scale, der mir diesen spannenden Tipp gegeben hat. Es war ein guter Tipp, soviel kann ich schon mal vorausschicken.

Musikalisch stellen mich Manescape aus dem polnischen Glogow vor ein interessantes Problem, denn die stilistische Herkunft der drei jungen Herren lässt sich nicht so ohne weiteres in ein Schema pressen. Ich versuch’s mal mit folgender Umschreibung: Psychedelischer Prog mit Einflüssen aus modernem Stoner und Postrock sowie allerlei Retrobezügen, die mich völlig überrascht auf alte Bekannte stoßen lassen. Über dieser breit gefächerten Grundlage nimmt uns fortwährend ein wirklich melodischer Gesang gefangen, oft melancholisch, immer einfühlsam und gelegentlich an die leicht schräg gestalteten Vokalparts aus der New Wave-Bewegung der Achtziger erinnernd. Wow, ein solches Konglomerat von teilweise höchst unverwandten Musikrichtungen findet man nicht alle Tage auf einem einzigen Album.

Der Auftakt mit "Helium" hingegen frönt einer meiner liebsten Spielarten, dem Stoner. Ein hartes Riff nimmt sogleich einen ganz eigenartig an die frühen U2 erinnernden Ausdruck an und führt in einen schönen, treibenden Refrain. Musik, die auf der Bühne besonders gut abgeht. Ein wunderbar zurückgenommenes Break klingt fast wie die ruhigen Parts von Porcupine Tree und spielen sehr schön mit Intensität und postrockigen Steigerungen, bis das Eingangsintro ein finales Ausrufezeichen setzt.

Die Stimmung kippt komplett in das wirklich sehr melancholische "Penetrating Sound Of Inertia". Von stonerartigen Attacken ist keine Rede mehr, psychedelisch zurückhaltend schwebt dieser geheimnisvoll düstere Gesang in leicht schrägen, aber schön anzuhörenden Kreisen, die mich wieder einmal an die großartigen Harmonien dieser leider so kurzlebigen Prog-Supergroup Kino um den Arena-Gitarristen John Mitchell erinnern, die ja nur ein Album produzierten. Ein erneut postrockiges Break verleiht dem Song zusätzlich Spannung, insgesamt eine getragene Meditation, die sich mit dem Auftakt zu dem tollen "Beautiful Agony" noch verstärkt. Diese herrlich gleichförmig mäandernde Gitarre im Hintergrund führt mir tatsächlich und wirklich sehr überraschend jene Underground-Künstler aus den Achtzigern vor Augen, denen ich in unserem Weihnachtsspecial schon ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Gemeint ist die britische Band Felt, die auch gesanglich durchaus Gemeinsamkeiten mit Manescape aufweisen, auch wenn sie insgesamt sicher einer gänzlich anderen Musik zuzurechnen sind, so etwas wie New Wave Sub-Pop, wenn es das denn gibt.

Wenn eine Band es schafft, mir derart viele Anspielungen an Vergangenes in ein insgesamt völlig neues Konstrukt vorzuführen, dann müssen da Musiker mit einer gehörigen Portion Kreativität am Werk sein. Wenn das Ergebnis obendrein noch so betörend schön klingt, dann gibt es gleich einen Gummipunkt dazu.

Wie ich nachlesen konnte, befassen sich die Texte mit den Ideen des Existenzialisten Albert Camus und seiner Philosophie von der Macht des Absurden. Das Konzept erinnert ein wenig an die Deutsche Band Buddha Sentenza, die sich ja auch mit dem Existenzialismus auseinander setzt. Klasse, wenn Rockmusiker es wagen, so eine intellektuelle Ebene in ihrer Musik abzubilden. Da ich das vorliegende Album "Antibodies" hingegen nur in Dateiform vorliegen habe, nicht aber die Songtexte, kann ich dazu leider keine weiteren Aussagen treffen, habe mir aber sagen lassen, dass die Kraft der Worte in den Songtexten ganz besonders auffällig sein soll. Es wäre eine zusätzliche, sehr spannende Ebene, das Album mal in dieser Hinsicht zu erschließen, fürs Erste konzentriere ich mich jedoch auf die Musik.

"In Moments Of Oblivion" beginnt verträumt, startet aber bald durch mit krachenden Bässen und einem brachial einschlagenden Rhythmus. Erinnert ein wenig an die Psychedelik-Formation AnotheRule aus Rom. Die nährten sich gerne aus den wilden Quellen der späten Sechziger, als "Eugene" bei Pink Floyd mit seiner Axt noch vorsichtig sein sollte. Bei Manescape dominiert die Melodik und lässt direkte Vergleiche mit solch verrückten Wurzeln eigentlich nicht zu, aber tief unten im Unterbewusstsein mag man sich doch daran erinnern. Hey, und das fast poppig treibende "Decadence And The Wind" wäre Anfang der Achtziger vielleicht in den Hitparaden gelandet.

Dass mit "Black Blood" fast so etwas wie Heavy Rock aufkeimt, macht das Album um eine weitere Nuance reicher.

Insgesamt zehn Antikörper injiziert uns Manescape, eine Impfung, die nicht schmerzt, sondern ausgesprochen vergnüglich stimmt. Die Songs vermitteln gänzlich unterschiedliche Atmosphären, oft reflektiert melancholisch, gleichsam aber auch vorwärts orientiert und psychedelisch, mit einem ordentlichen Schwung Lebensfreude wie in dem herrlichen Postrock-Freak-Out in "The Yearning". Hier hat man ganz besonders das Gefühl, dass die Band die Post abgehen lassen möchte. Sehr schön, wie hier die Rhythmusfraktion immer virtuoser auskeilt und die Gitarre darüber energetisch ekstatisch expandiert. Krasse Vibes und hypnotischer Drive, dazu die richtige Beleuchtung, dann wird das auf den Konzerten der Abräumer schlechthin, trainiert schon mal Eure Nackenmuskulatur.

Und als Kontrapunkt zum Abschluss in "Go In Reserve" noch einmal ein Flashback in die sanft dahingleitenden Sounds, für die ich einst so sehr auf Felt abgefahren bin. Aber Manescape wollen uns nicht ganz so gemächlich aus der Nummer heraus lassen, es gibt noch einmal ein paar stonerschwangere, düstere Intensitätsverschärfungen, die keinen Zweifel daran lassen, dass wir es mit einer Band zu tun haben, die auch mit den härteren Gangarten vertraut ist.

Insgesamt ist "Antibodies" ein sehr schönes Album voller kreativer Momente zwischen melodischem Psych und aggressivem Postrock. Wer mal hören möchte, welche Optionen die Musik von U2 damals gehabt hätte, wenn man sich mit progressiven Ansätzen auseinandergesetzt hätte, kommt bei Manescape auf sehr interessante Ideen und Anregungen.


Line-up Manescape:

Daniel Paluszek (guitar, vocals)
Piotr Lubiak (bass)
Mario Bielski (drums)

Tracklist "Antibodies":

  1. Helium
  2. Penetrating Sound Of Inertia
  3. Beautiful Agony
  4. In Moments Of Oblivion
  5. Crystal Palace Loner
  6. Decadence And The Wind
  7. Human Code
  8. Black Blood
  9. The Yearning
  10. Go In Reverse

Gesamtspielzeit: 53:05, Erscheinungsjahr: 2017

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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