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Marco Mattei / Out Of Control – CD-Review

Marco Mattei / Out Of Control

Marco Mattei ist ein italienischer Gitarrist und Songwriter. Geboren in Civitavecchia lebt er aktuell in den Staaten. Er hat in seiner Jugend Jazz-Gitarre studiert und sich früh mit der Faszination des progressiven Rock befasst. Heute arbeitet er als Komponist, Musiker und Produzent, mit "Out Of Control" legt er im Herbst 2021 sein erstes Soloalbum vor. Der Titel ist dabei Programm, ich zitiere mal den Waschzettel: »Die Texte dieses Konzeptalbums drehen sich um Dinge, die wir nicht kontrollieren können, wie den Ort und die Zeit, zu der wir geboren werden, die Farbe unserer Haut oder die Menschen, denen wir im Laufe unseres Lebens begegnen.« Marco ergänzt dazu: »Und die Hauptbotschaft ist, dass diese Erkenntnis zu einem Perspektivwechsel führen sollte. Wenn wir uns in die Lage anderer Menschen versetzen, erlauben wir uns, offener und empathischer zu werden.« Ein zeitgemäßer Ansatz in Zeiten einer sich wandelnden Welt.

So sehr die Texte der Songs somit in einem inhaltlichen Kontext stehen und einen roten Faden ergeben, so sehr ist die musikalische Komposition geprägt von stilistischer Vielfalt und unterschiedlichen Stilrichtungen. Allein sechs Sänger tragen zu unterschiedlichen Stimmungsbildern bei. Umso verrückter mag es da klingen, dass das Album im Ganzen und am Stück durchgehört eine faszinierende und stimmige Einheit bildet. Ein Mosaik, dessen Steinchen sich am Ende zu einem sinnvollen Gebilde formen. Sehr cool.

Aufbereitet wird das geheimnisvolle Gebräu aus Zutaten wie Prog Rock, Dream Pop, Folk oder World Music. Hier und da rutscht auch mal eine klassisch jazzige Phrase durch, Freunde der Fusion wird es freuen.

Eine sanfte Sitar und ruhig gedehnte Gitarren begleiten uns hinein in "Would I Be Me", asiatisch entspannt und melodisch ausdrucksstark. Der Song stellt Fragen, wer man wäre, wenn man unter anderen Bedingungen auf der Welt wäre. Wäre man der Gleiche? Die Gretchen-Frage des Albums gleich zu Beginn, auf Basis modernen Songwritings. "Pictures In A Frame" wechselt in ein leicht Crimson-verdächtiges Terrain, Herr Mastelotto am Schlag und Tony Levin am Bass geben nicht von Ungefähr in dieser Nummer den Rhythmus vor.
Meine erste kleine Gänsehaut ereilt mich in "More Intense", wo die Vocals irgendwo zwischen Peter Gabriel und Ray Wilson liegen. Wen mag es da verwundern, wenn ein bisschen Genesis-Feeling aufkommt? Allein die dezente Sound-Begleitung bietet in der Gitarre eine wunderschön schwebende Unterlage, wie sie Robert Fripp so herrlich zu spielen vermag. Das sanft pointierte, kurze Solo hingegen kontrastiert diesen eleganten Teppich, das Ende kommt viel zu früh, aber jetzt bin ich in Stimmung.

Der Sprung zu "I’ll Be Born" schickt mich jedoch weit zurück in die Zeit, damals, als Pink Floyd noch folkig angehauchte, psychedelische Einlagen spielten. Die schöne Flöte lockt von der grünen Insel herüber und der Titel reizt mit seinem Wortspiel zwischen den Zeilen. Ich werde geboren worden sein, ein Satz, den eigentlich kein Individuum berechtigt aussprechen kann. Ein Tempus-mäßiges Paradoxon oder was? Das Lap Steel untermalte "Lullaby For You" mit der niedlichen Kinderstimme zu Beginn nimmt den folkig warmen Sound auf, hat aber mit den floydschen Ausflügen nichts mehr zu tun.

Doch was ist das? Plötzlich krachen fetzige Riffs und rockige Rhythmen über den gerade noch so poetisch eingestimmten Hörer. "Anymore" ist bis hierhin die aggressivste Nummer, mit einem sehr coolen Groove und einer spannend inszenierten Lead Guitar. Das kommt an dieser Stelle überraschend, aber dann startet der geilste Part der Platte mit dem geslideten Akustikpart in "Tomorrow", eine Nummer, die mich im Aufbau an den Song eines wunderbaren Bluesrockers aus den Staaten erinnert, nämlich Ryan McGarvey, einem wahren Saitenzauberer. Die Gitarrensounds würden sogar einem Warren Haynes gut zu Gesicht stehen. Der Song eskaliert bluesig und sehr geil. Verrückt, auf welche Pfade wir hier mitgenommen werden.
Das atmosphärisch driftende "Void" bringt mich zurück zu Mr. Gilmour und seinen Spießgesellen. Chad Wackerman, der einst bei Frank Zappa spielte, sitzt an der Schießbude und Bassist Fabio Trentini ist hierzulande mit dem Saitenvirtuosen Markus Reuter unterwegs gewesen. Dieser Song lebt entgegen den meisten Nummern auch in den Harmonien und Soli stark von den Tasten. Die Gitarre übernimmt erst zum Ende hin und klingt hier abermals sehr karmesinrot. Es ist dies mit knapp sieben Minuten die längste Nummer auf dem Album.
Abgeschlossen wird dieser Mittelblock durch das wunderbar elegante "On Your Side", einer einnehmenden Ode mit schönem Background-Gesang, die mich in ihrem Aufbau und Ausdruck an die Neal Morse Band erinnert. Der Song driftet losgelöst und Tiefen-entspannt, eine Freundschaftserklärung an jeden, der sich angesprochen fühlt. Eine solche friedfertige Lässigkeit kannte ich bisher eigentlich nur von Peter Gabriel.

"After Tomorrow" ist ein schönes akustisches Interlude, es erdet nach den emotionalen Höhepunkten der letzten Songs, was sich in "Hidden Gems" elektrisch verstärkt fortsetzt. Ein kurzer sphärischer Trip zwischen den Welten, dem Hier-und-Jetzt oder dem, wie es auch hätte sein können. Eine bluesig-jazzig reflektierende, elektrische Gitarre setzt den finalen Akzent – von der Stimmung her ein bisschen "Villanova Junction" von Herrn Hendrix, technisch umgesetzt allerdings eher wie die Herren Lukather oder Robben Ford.

Wer sich mit Musikern umgibt, die schon bei Peter Gabriel, King Crimson oder Frank Zappa gespielt haben, der garantiert für perfektes Handwerk und musikalische Kreativität. Daraus mixt Marco Mattei ein Album, auf dem es ganz viel zu entdecken gibt, wieder und wieder. Die Songs leben von ihrer tiefen Emotion, er spielt geschickt mit akustischen Einlagen, die dem Projekt einen eigenen, sehr warmen Duktus verschaffen und gerade deshalb dafür sorgen, dass die Musik bei allen Wechseln und Sprüngen niemals verkopft, sondern immer organisch gewachsen wirkt. Seine stilistischen Zitate spiegeln seine vielseitige Persönlichkeit wider, hat er doch bereits in sechs verschiedenen Ländern auf drei Kontinenten gelebt. So gesehen könnte man das Album als ein fundamentales Statement seines eigenen Lebens interpretieren – mehr Authentizität geht nun wirklich nicht.
Gefällt mir sehr gut.


Line-up Marco Mattei:

Marco Mattei (guitars, bouzouki, bass, percussion, samples, programming, vocals)
Dave Bond (vocals #1,3,9)
Matthew Brown (vocals #2)
Felix Brandt (vocals #4,5)
Barak Seguin (vocals #6)
Richard Farrell (vocals #8)
Jerry Marotta (drums, percussion #1,9,11)
Pat Mastelotto (drums, percussion #2)
Chat Wackerman (drums, percussion #8)
Clive Deamer (drums, percussion #3)
Matt Crain (drums, percussion #6)
Gianni Pierannunzio (drums, percussion #7)
Salvatore Mennella (drums, percussion #12)
Matilde Mattei (shaker #7)
Tony Levin (bass #1,2,9)
Fabio Trentini (bass #8)
Gabriele Bibbi Ferrari (bass 12)
Duilio Galioto (synths, moog, wurlitzer, piano, mellotron #3,8,9)
Paolo Gianfrate (keyboards)
Dave Bond (mandolin)
Marco Planells (sitar)
Paul Johnson (flute and whistle)
Diederik van den Brandt (pedal steel)
Rob Wakefield (violin)
Max Rosati (lead electric guitar)
Mauro Munzi (reverse piano)

Tracklist "Out Of Control":

  1. Would I Be Me
  2. Picture In Aa Frame
  3. More Intense
  4. I’ll Be Born
  5. Lullaby For You
  6. Anymore
  7. Tomorrow
  8. Void
  9. On Your Side
  10. After Tomorrow
  11. Hidden Gems
  12. Gone

Gesamtspielzeit: 46:03, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

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