Der Erfinder der Touch-Guitar, Markus Reuter, hat im Sommer gleich drei neue Platten über Moonjune veröffentlicht, sicherlich der Corona-Pause geschuldet, die wir zwischenzeitlich fast hinter uns glaubten. Pustekuchen, wir werden auch in nächster Zeit auf Konserven zurückgreifen müssen. Dachte sich vermutlich auch Markus, denn die Extrakte der vorliegenden Alben waren ja schon vor der großen Krise aufgezeichnet worden. Zwei davon entstanden in wahrhaft wilden Improvisationen, "Sun Trance" hingegen entspringt einer Komposition von Markus Reuter aus dem März 2017. Diese Musik ist die deutlich zugänglichste.
Markus Reuter / Sun Trance
Das Mannheimer Schlagwerk ist ein zehnköpfiges perkussives Ensemble, beheimatet an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim. Geleitet werden die jungen Musiker von Professor Dennis Kuhn. Gemeinsam versammelten sie sich mit Markus Reuter im Jahr 2017 in Mannheim vor Live-Publikum und spielten das sphärische Werk "Sun Trance", Dennis Kuhn bediente dabei das Vibraphon.
Die Komposition besteht im Grunde aus nur einem Stück avantgardistisch progressiver Musik, aber mit Schubladen brauchen wir uns diesem Werk nicht zu nähern. Die Mannheimer Gäste kreieren zu Beginn einen wunderbar warmen Soundteppich, durch den das Vibraphon führt und die perkussiven Elemente sich sanft und behutsam an diesen meditativen Fluss anfügen. Entspannt mäandert der interessierte Zuhörer schnell aus der Wirklichkeit heraus in einen parallelen Raum, losgelöst von allem, was uns gerade noch umgab. So befreit schweben wir sozusagen mit dem Soundscape im Einklang, bis ganz langsam und sanft diese wunderbare Touch-Gitarre von Markus scheinbar aus dem Nichts erscheint, sich harmonisch auf den Klangteppich auflegt und seine Grundstimmung mit klanglichen Farben und wunderbar streichelnden Linien umschmeichelt. Die Improvisationen scheinen aus dem Klangkosmos organisch herauszuwachsen wie Schlierenwolken am Horizont, die sich scheinbar aus dem Nichts bilden. Die Interaktion zwischen Markus und seinem elfköpfigen Orchester erinnert mich irgendwie an die mitreißende Zusammenarbeit von Cellist David Darling und Gitarrist Terje Rypdal. "Eos" hieß das Werk und stammt aus dem Jahr 1984.
Die Spielart der Improvisation hat aber viel mehr Verwandtschaft mit jener herrlich kontrapunktierenden Spielweise, wie sie Meister Fripp einst im Zusammenspiel mit David Sylvian praktizierte.
Zwischendrin zieht sich die Gitarre zurück und überlässt dem Vibraphon erst einmal wieder das Feld. Später zurückgekehrt werden die Saitenanschlähe ein wenig dunkler und gedehnter, hier und da setzt eine kleine Verzerrung einen minimal sperrigen Akzent in den ansonsten zeitlos ungehindert dahintreibenden Strom. Das sanfte Finale und der lang gezogene Ausklang, insbesondere mit dem sanften, metallenen Anschlägen vermittelt mir eindrückliche Erinnerungen an eine buddhistische Zeremonie, der ich morgens um fünf auf dem Affenberg von Swayambunath hoch über Kathmandu einst beiwohnen durfte. Die aufgehende Morgensonne über den fernen Bergen des Himalaya, der eintönige Gesang der Mönche, die geschlagenen Glocken und Bleche, von all dem bekommt man ganz viel, wenn man sich auf Sun Trance einlässt. Das Begleitmaterial warnte vorweg: »In dieser Musik kann man verloren gehen« – stimmt, und jeder wird da sein eigenes Kopfkino erleben. Aber am Ende geht man gestärkt daraus hervor, denn diese Musik durchdringt einen wie der Geist eines guten Weines. Das macht Spaß.
Oculus – Nothing Is Sacred
Ich zitiere das Label Moonjune: »Genie pur: Entlarvt und dokumentiert. Es ist Jazz; aber auch eine Art "Anti-Jazz". Es ist progressiv und ersetzt bereits vorhandene Vorlagen oder traditionelle Standards. Es ist Avantgarde, während es auch dort über die typischen Grenzen hinausschießt. Und es ist 'Free Jazz', aber mit einer vorgefassten Struktur.«
Das hört sich nach harter Kost an und die wird hier auch geboten. Man muss seine Ohren und seinen Geist öffnen, dann dringt man womöglich ein in eine fantastische Reise zu neuer Rhythmik und Harmonien, die man eigentlich überhaupt nicht so nennen darf. Improvisation einerseits eingefangen durch vorgegebene kompositorische Regeln, nur um am Ende daraus etwas völlig Neues zu erschaffen. Dazu bedarf es virtuoser Begleiter, die hat Markus Reuter auch gefunden, unter anderem den früheren King Crimson-Geiger und Keyboarder David Cross. Die Musik wurde übrigens beim Label-Treff in Spanien in einer Session eingespielt. Die Musik ist rauh, wild und hält sich an keine Regeln, außer ihrer selbst auferlegten. Im Zusammenhang mit Stephan Thelens Band Sonar ist mir so ein Prinzip erstmals begegnet, und bei Stephans Solo-Platte 2019 spielte Markus ebenfalls auf der Touch-Guitar mit. »Das ist verrückte Musik. Ich habe ein Kompositionssystem verwendet, das es den Musikern grundsätzlich untersagte, intuitiv zu spielen. Sie mussten Regeln befolgen, die dazu dienten, wirklich seltsame Melodien und Harmonien zu erzeugen«, sagt Markus selbst.
Das Ergebnis dieser verrückten Musik ist tief beeindruckend, wenn man bereit ist, den Weg mitzugehen. Fünf Kompositionen, beginnend mit dem überschäumenden Titelstück "Nothing Is Sacred (Dice II)". Cooler Titel, wenn man Grenzen einzureißen gedenkt. Zu Beginn dachte ich mich noch ein wenig in der Nähe einiger Kompositionen des bereits zitierten Terje Rypdal, doch mit fortlaufender Zeit wirkt die Nummer, als würden ihre Sequenzen gerade in dem Moment zerrissen, da sie sich entwickeln. Scheinbar nicht zueinander passende Partikel schießen wie zum Gedenken an die Chaostheorie durch einen eng definierten Raum und doch scheint die Gitarre irgendwie eine Linie durch dieses Gewirr zu finden und vorzugeben. Die unglaubliche rhythmische Arbeit des Schlagzeugers Asaf Sirkis ist atemraubend, wenn er mit den eindrücklichen Bass-Pointierungen die Szenerie beruhigt. Die Keyboard-Versatzstücke schießen scheinbar kakophonisch dazwischen, aber nun schweben wir am Ende ganz entschleunigt wie durch ein Wurmloch davon. Wow, was für ein Parforce-Ritt.
Die anderen Nummern stehen diesem Wahnsinns-Werk im Grunde nichts nach, vor allem der irre Steigerungslauf am Ende von "The Occult (Dice I)" haut einen aus den Schuhen und kontrastiert mit dem ungemein sanften Intro zu "Bubble Bubble Bubble Bath (Wink)", obgleich das Schaumbad so fremd wirkt wie das surrealistische Zimmer am Ende von Kubricks "2001". Später zum Ende von "Solve Et Coagula (Ghost I) gibt es sogar Soundscapes, die trotz aller jazzigen Ausprägung auf eine seltsame Weise tief berührt; eine Harmonie, die sicherlich keine ist und die dennoch so stark auf das Gefühl wirkt. Außergewöhnliche Kontraste und Widersprüche bietet diese Hörerfahrung.
Fantastische Instrumentalisten auf einem sehr exponierten Pfad am Rande aller Konventionen und oft auch ein Stück darüber hinaus. Ich habe in der Vergangenheit einmal Kontakt mit Free Jazz gehabt und der hatte sich mir damals nicht erschlossen. Diese Musik ist aber doch ein Stück weit anders, eher so etwas wie die wilde pure Form der Fusion? Schließlich bezieht sich Markus bei dieser Komposition bewusst und ausdrücklich auf Miles Davis' "Bitches Brew", dessen fundamental radikales Konzept, wie er es nennt, als Inspiration gedient hat, selbst neue Wege zu beschreiten. Diese Musik berührt mich und ich freue mich, noch viel tiefer dort eindringen zu dürfen.
Aufregend, spannend, virtuos und revolutionär ist "Oculus" – aber es fordert den Zuhörer auf, mit über die Grenzen zu gehen. Der wirklich einzige Weg, sich diesem Werk richtig zu nähern.
Reuter Motzer Grohowski / Shapeshifters
Shapeshifters, die Gestaltverwandler. Mal sehen, welches Gesicht und welches Wesen sie uns präsentieren werden. Abgesehen von den dezent und stilsicher eingesetzten elektronischen Soundscapes improvisieren die Herren Markus Reuter an der Touch-Guitar, Tim Motzer an Bass und Gitarre und Kenny Grohowski am Schlag fast wie ein Power-Trio. Sehr viel zugänglicher wird der Sound dadurch nicht. Anders als die manchmal schillernden Fragmente auf "Nothing Is Sacred" haben wir es mit düsteren Klangbildern zu tun, die ihre Entsprechung in der Eröffnungssequenz vom "Terminator" finden könnten, wenn die bösen Killer-Maschinen über Berge von Totenköpfen und Skeletten unbarmherzig nach Überlebenden suchen.
Ganz langsam entwickelt sich aus den verstörenden Szenerien ein rhythmisches Konstrukt mit grundsätzlich progressiven Strukturen und einem ordentlichen Schuss Industrial. Das beruhigte Break versprüht ätzende Dämpfe und das Bild des Terminators will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf weichen. Diese Töne verstören, dagegen sind die einstigen dunklen Passagen von Pink Floyd fast eine Blümchenwiese. Und doch liegt genau in dieser morbiden Atmosphäre der Reiz dieser rohen und ungebändigten Musik.
"Transmutation" hat einen ungeheuren Steigerungslauf und explodiert in wildesten Improvisationen, etwa so, als hätte man seinerzeit Cream mit einer zu hohen Geschwindigkeit wiedergegeben. Nach einigen Minuten beruhigt sich die Szenerie und Tim elaboriert eine Weile im Vordergrund. Hier wirken die Klänge vorübergehend fast ein wenig ambient, wenn Gitarre und Touch Guitar sich gegenseitig umgarnen. Atmosphärisch könnten wir uns aber immer noch spielend auf dem Friedhof treffen. Tim wechselt zurück zum Bass und über seinen fast glockenschlag-ähnlichen Saitenanschlägen phrasiert Markus nun immer prägnanter. Kenny befeuert mehr und mehr und treibt die Amplitude der Intensität wieder hinauf in höchste Höhen. Der Spannungsbogen zur aktuellen Corona-Lage, möchte man frustriert feststellen.
Das Finale Furioso steigert sich in ein Inferno, bis ein sichtlich befriedigtes Auditorium euphorischen Beifall spendet. Hier ist Publikum dabei, wir würden es uns dieser Tage mehr denn je wünschen.
Ambiente Fröstelei überkommt uns in "Cyphers", Eis erstarrte Landschaften und archaische Ebenen, ein wenig kommen mir abermals Namen norwegischer Jazz-Musiker in den Sinn, deren Musik oft auch wie ein Schneeschuh-Marsch durch die Berge und Wälder von Jotunheimen wirken. Hier steigert sich die Nummer allerdings eher in Richtung eines progressiven, avantgardistischen Rocks, wobei der Begriff Rockmusik hier sehr relativ ist. Diese Musik ist stilistisch kaum einzufangen. Es folgt ein Solo, wie es so ähnlich Ronni Le Tekro bei Terje Rypdal hat einfließen lassen, da finden sich dann doch immer wieder mal ein paar Parallelen.
Zuletzt noch einmal ein wahnsinniger Steigerungslauf in "Burn To Aether", Jubel und Beifall, dann sind drei ausgesprochen spannende Alben abgeschlossen.
Markus Reuter hat die Zeit ohne Live-Musik genutzt, um den Menschen einige ganz besondere Projekte zu schenken, die mehr als nur normale Aufmerksamkeit verdienen und die man sich wirklich auch erst erarbeiten muss. Wer großartige Musik aus dem Spannungsfeld zwischen Jazz, Fusion und Prog hören möchte und bereit ist, sich auch auf aggressive neue Sounds einzulassen, der wird bei Markus Reuter ein Füllhorn an Befriedigung finden.
Line-up Markus Reuter – Sun Trance:
Markus Reuter (touch guitar)
Dennis Kuhn (vibraphone)
Mannheimer Schlagwerk (all percussions)
Line-up Oculus – Nothing Is Sacred:
Markus Reuter (touch guitar, electronics)
Mark Wingfield (guitar)
David Cross (violin, fender rhodes piano)
Fabio Trentini (fretless bass)
Asaf Sirkis (drums)
Robert Rich (soundscapes)
Line-up Reuter Motzer Grohowski – Shapeshifters
Markus Reuter (touch guitar, electronics)
Tim Motzer (bass, guitar, electronics)
Kenny Grohowski (drums, metals)
Tracklist "Sun Trance":
- Sun Trance
Gesamtspielzeit: 36:27, Erscheinungsjahr: 2020
Tracklist "Nothing Is Sacred":
- Nothing Is Sacred (Dice II)
- The Occult (Dice I)
- Bubble Bubble Bubble Bath (Wink)
- Solve Et Coagula (Ghost I)
- Bubble Bubble Bubble Song (Sighs)
Gesamtspielzeit: 61:11, Erscheinungsjahr: 2020
Tracklist "Shapeshifters":
- Dark Sparks
- Transmutation
- Cyphers
- Burns To Aether
Gesamtspielzeit: 64:07, Erscheinungsjahr: 2020
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