Orientalische Musik hat seit meiner Jugend eine gewisse Mystik auf mich ausgestrahlt; und immer auch ein wenig Sinnlichkeit. Vielleicht, weil ich im Kopf permanent Bauchtänze mit dieser Art Musik verband? Es wäre eine unangebrachte Simplifizierung.
Traditionelle arabische Musik leitet sich meist aus religiösen Motiven ab, so wie die Sufi-Musik aus dem Sufismus. Dieser beschreibt und praktiziert einen asketisch-mystischen Umgang mit dem Islam. Diese kulturelle Bewegung gilt als tolerant und friedliebend, aber eben dennoch auch als Werkzeug ihrer Religion, zu deren Lobpreisung sie ausschließlich dient. Die stilistischen Merkmale unterscheiden sich markant von westlich populärer Musik. Harmonien fehlen in klassischer arabischer Musik wie Kontrapunkte in Form eines Bass-Einsatzes oder mehrstimmige Gesänge. Diese Musik konzentriert sich auf die Modulationsfähigkeit der menschlichen Stimme und Instrumente dienen letztlich nur dazu, diese zu unterstützen und zu begleiten. So habe ich es jedenfalls recherchiert.
Ein Stilmix von solcher traditioneller Spielweise mit moderner Rockmusik ist daher ein faszinierendes Experiment, sowohl spieltechnisch als sicher auch kulturell. Ob islamische Traditionalisten gerne sehen, wenn ihre Musik mit der der 'Ungläubigen' verschmilzt? Neulich fragte ich dazu einen alten tunesischen Taxifahrer, daheim bei uns in Duisburg. Der fand das nicht so toll.
So leben denn die Musiker von Myrath, deren neues Werk "Shelili" hier zur Besprechung liegt, nicht mehr in ihrer Heimat Tunesien, sondern in Frankreich. Immerhin konnten sie vor zwei Jahren ihre Musik live im antiken Theater von Karthago spielen, vor tausenden begeisterten Enthusiasten und wenn man die Youtube-Kommentare ließt, dann spürt man schnell, wie viele junge arabische Musikfreunde rund um die Erde stolz und völlig begeistert sind, dass es endlich eine Metal-Band aus ihren ethnologischen Reihen gibt.
Dass Myrath sich nicht aus aktuellen Themen raus halten, haben sie schon in der Vergangenheit bewiesen. Auf ihrem letzten Album haben sie unter anderem auch die Revolution in Tunesien vor einigen Jahren verarbeitet. Den Begriff des sogenannten 'Arabischen Frühlings' mag ich hier nicht benützen, weil ich den für einen amerikanisch, imperialistischen Zynismus halte.
So entbehrt auch "Shehili" nicht einer nachdenklich stimmenden Grundlage: »Die Story der Platte wurde inspiriert von der Geschichte eines syrischen Tänzers, der Morddrohungen von ISIS bekam, und sich trotzdem entschied weiter zu tanzen, obwohl er sich auf Ruinen und Grabstätten bewegte.«
Wer sich der Musik von Myrath (so wie ich) erstmals nähert, dem seien die faszinierenden Videos nahegelegt, die bereits millionenfach im Netz angeklickt wurden. "Dance" vom aktuellen Album war da die zweite Ausgabe. Hinreißend inszenierte Geschichten wie aus 1000 und einer Nacht, mit den fünf Musikern, deren Avatare als ikonische Charaktere mystische Abenteuer erleben. Es würde zu weit führen, auch diese Geschichten zu analysieren und etwaige Parallelen auf ihr reales Leben herauszustellen. Ich denke, solche würde man dort finden. Diese kleinen Filme sind fantastisch produziert – und das gilt auch für das Album, wo allein drei verschiedene Produzenten engagiert wurden, dem anspruchsvollen Ziel gleich zu kommen, einen runden und vollen Sound bei derart unterschiedlichen musikalischen Wurzeln zu schaffen. Es ist brillant gelungen, die Harmonie des gesamten Albums ist so stimmig, dass man glauben mag, der Orient hätte sich schon immer in der Rockmusik ausgetobt.
Dass die Bands unseren Ohren vertrautere Grundlagen bei Dream Theater und Symphony X sieht, ist unschwer zu erkennen, der Ausrichtung liegt ein glasklares Konzept für Progressive Metal zugrunde. Ein treibender, kontrapunktierender Rhythmus mit Anis Jouini am Bass und Morgan Berthet am Schlag bilden die Basis für Elyes Bouchouchas kraftvoll satte Keyboards sowie die krachenden Riffs und so herrlich melodischen Soli an der Gitarre von Malek Ben Arbia. Und über allem tanzt der Derwisch Zaher Zorgati, leidenschaftlich, mitreißend und mit einer geilen Stimme gesegnet. Manchesmal erscheint er mir fast als orientalische Reinkarnation eines Ronnie James Dio. Tatsächlich klingt die Musik in den Passagen, wo der Metal nicht so deutlich durchkommt, ein wenig wie einstmals Rainbow. "Wicked Dice" ist so ein Beleg dafür.
Schon der Auftakt verschafft mir eine Gänsehaut erster Güte. Archaische Töne und ein mystischer, arabischer Gesang leiten als Intro hinüber in ein eruptives Riff-Erwachen und sogleich übernimmt der Steuermann Zaher Zorgati mit seinem charismatischen Gesang den Kurs. Genial, wie auch hier in die Untermalung neben den vertrauten Keybord-Teppichen und flächigen Gitarren-Fächern immer wieder traditionelle orientalische Soundschnipsel integriert werden. Das gibt dem Sound jenen kompakten, aber irgendwie immer leicht exotischen Touch. Meine Herren, das klingt wirklich geil, stilistisch sicher fortgeführt in dem etwas progressiveren Sound von "You' ve Lost Yourself", wo ich eine kleine Verwandtschaft zu den britischen Proggern von Arena verspüre. Zu "Dance" mag ich einfach auf den zitierten Film verweisen, »reinziehen und abfahren« ist ein gutes Motto dazu.
Etwa bei Halbzeit auf dem Album erfährt der bis hierhin grundsätzlich drauf los marschierende Spirit der Songs eine tempomäßige Reduktion. War schon "Monster In my Closet" (was für ein Titel) eine eingängige Nummer im mittleren Tempo, nimmt uns "Lili Twil" beschwingt entschleunigt mit hier (teilweise) wieder arabischem Gesang, einer ergreifenden Melodic und einer epischen Prog-Gitarre gefangen. Die arabischen Gesangseinlagen werden übrigens vom Keyboarder Elyes Bouchoucha eingebracht, der vor Zahers Eintritt in die Band grundsätzlich für die Vocals verantwortlich zeichnete. Irgendwie erinnern diese originären Passagen ein wenig an die Arbeitsteilung, wie sie die Schotten von Runrig auch schon seit so vielen Jahren praktizieren, wenn die gälischen Passagen vom Perkussionisten Calum MacDonald getragen werden, während ansonsten der Kanadier Bruce Guthro fürs Englische zuständig ist. Musik mit ethnischen Wurzeln gibt es zum Glück in vielen Bereichen der Erde, hier mag ich auch an Orphaned Land aus Palästina und Israel denken.
Nachdem mit "No Holding Back" so etwas wie ein radiogängiger Song eingestreut wurde, geleitet uns Myrath in eine nachdenkliche mit ruhig perlendem Piano gezielt minimalistisch aufbereitete Ballade namens "Stardust", die dann in eine langsame Rocknummer moduliert. Im Hintergrund klingen Streicher, seien sie nun organisch oder nicht. Mehrstimmiger Gesang im Refrain und abermals ein Verweis an das Vermächtnis von Ronnie James Dio, wenn Zaher mit gebrochener Stimme die zurückgenommenen Passagen so einfühlsam interpretiert.
"Mersal" lebt eindeutig vom Wechselgesang der beiden Stimmen in der Band, die sinnbildlich die beiden Welten von Myrath charakterisieren, während mit "Darkness Arise" noch einmal eine treibende Progressive-Nummer mit schönen Breaks und eingängigem Refrain den Intensitätspegel nach oben drückt. Die härteren Vertreter im Neo-Prog stehen hier allesamt Spalier.
Zum Abschluss nimmt der Titel "Shehili" quasi als Essenz noch einmal die bedeutendsten Aspekte in der Musik des Albums auf und kulminiert in leidenschaftlich sehnsüchtigen Hooklines voller Dramatik und Melodik, immer wieder unterbrochen von sanften originären Klängen und einem mystisch gedehnten Ausklang.
Wow, ein großartiges Album mit einem überragenden und zutiefst menschlichen Konzept. Das geht auf und öffnet die Ohren eigentlich ganz anders konditionierter Zuhörer für die Schönheit orientalischer Musik. Wie Friedrich Dürrenmatt einst sinngemäß schrieb: »Sie kommen zu Dir durch Deine Tür, um Dich durch ihre Tür hinaus zu führen.«
Eigentlich wollte ich den gesellschaftspolitischen Aspekt einer Rockmusik aus Tunesien noch deutlicher beleuchten, doch dann las ich eine Kernaussage des Sängers, Zaher Zorgati, die mir bedeutender erscheint: »Der Zweck unserer Musik ist es, Glück und Freude zu erzeugen, um denjenigen Tribut zu zollen, die sich wehren und nicht aufhören zu hoffen, selbst in einer Welt voller Hass und Ungewissheit.«
Ich verneige mich in Ehrfurcht und stelle fest, dass diese fünf Jungs mit tunesischen Wurzeln etwas geschafft haben, was unsere Politikerkaste in den letzten Jahren missbraucht, gebeugt und vergewaltigt hat: Völkerverständigung. Integration kann man nicht herbeischwätzen, erst recht nicht, wenn man damit nur von seinen ideologisch gescheiterten Ideen und politisch zu verantworteten Entwicklungen ablenken will. Eine kleine Rockband zeigt, wie es gehen kann, sie baut Brücken zwischen dem Orient und dem Abendland. Dafür hätten sie den Friedensnobelpreis verdient!
In diesem Jahr geht die Band mit "Shehili" natürlich auch auf Tour. Und ja, sie haben eine Bauchtänzerin dabei. Die heißt Kahira Spirit und wird uns mächtig einheizen, so viel ist sicher – ich habe sie vorab auf einem Video gesehen. Und sie bringen Feuerwerk mit, auch dann, wenn sie demnächst auf Wacken spielen. Eigentlich braucht es das nicht, die Musik hat Feuerwerk genug in sich. Fetzige Riffs und gnadenlos gute Melodien werden den Freunden Feuer machen, davon bin ich überzeugt. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei Networking Media für die Bemusterung mit dieser außergewöhnlichen Platte bedanken, vielleicht wird sie mein Überraschungsalbum des Jahres. Danke, Kai Manke.
Line-up Myrath:
Zaher Zorgati (vocals)
Malek Ben Arbia (guitar)
Anis Jouini (bass)
Elyes Bouchoucha (keyboards, vocals)
Morgan Berthet (drums)
Tracklist "Shehili":
- ASL (Intro)
- Born To Survive
- You’ve Lost Yourself
- Dance
- Wicked Dice
- Monster In My Closet
- Lili Twil
- No Holding Back
- Stardust
- Mersal
- Darkness Arise
- Shehili
Gesamtspielzeit: 47:33, Erscheinungsjahr: 2019
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