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Nachtgreif / Schattenwandler – CD-Review

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Als ich Mitte der 1990er Jahre die Band Oomph! das erste Mal live erlebte, wusste ich nicht, wie mir geschah. Eine völlig neue, ungewohnte Musik, die mich tief ins Mark traf, die mich direkt ansprach, weil plötzlich mehrere Richtungen auf einmal zu hören waren. Eine Musikrichtung mit ungeahnten Möglichkeiten. Messerscharfe Gitarren, kombiniert mit Elektro-Beats, dazu ausdrucksstarker Gesang, der unter die Haut ging. Der Überraschungseffekt hätte nicht größer sein können.

Die später kommerziell sehr erfolgreichen Oomph! ragten für mich aus einer Vielzahl von Bands heraus. Ihre deutschsprachigen Texte hatten eine direkte und klare Aussage. Für mich galten die Braunschweiger mit ihren ehrlichen Botschaften als Sympathieträger, was sie bei ihren Konzerten mit ihrem bodenständigen Auftreten unterstrichen.

Ich muss gestehen, dass ich Bands dieser Couleur ein wenig aus den Augen verloren habe. Rammstein, die ihr eigenes Ding in einem anderen Kosmos machen, einmal ausgeklammert. Zu dieser Gruppe gehören ebenso Die Krupps, die für dieses Jahr ein Comeback-Album planen.

Umso mehr freue ich mich, mit Nachtgreif auf eine Band zu treffen, die all die beschriebenen Merkmale vereinen und für mich außerdem noch neu sind.
Dabei ist das gerade erschienene Album "Schattenwandler" bereits ihr viertes Werk. Dem 2014 veröffentlichten Debüt "Unter Strom" folgten "Dunkle Materie" (2017) und ein Jahr später "Spukhaus".

Zu den Stammakteuren Thorsten Fries (Gesang) und Arndt Hebel (Schlagzeug) gesellte sich bei der aktuellen Produktion Bernd Basmer (Gitarren, Bass und Electronics). Alle drei Protagonisten sind laut Begleitinformation zum Album seit 30 Jahren befreundet und unternahmen bereits 1990 gemeinsam ihre ersten musikalischen Gehversuche. Dass sie nichts dem Zufall überlassen, hört man auf "Schattenwandler".

Darauf enthalten sind zehn Stücke, die Spannung aufbauen, weil sie unterschiedliche Stimmungen transportieren, wofür letztlich auch die von Thorsten Fries geschriebenen Texte stehen. Die Lyrics greifen zeitkritische und ernsthafte Themen wie etwa Raubtier-Kapitalismus, Klimawandel, Benachteiligung, Verrohung oder Gewalt gegen Schwächere auf, verpacken diese metaphorisch und würzen sie oft mit einer Brise Zynismus.

Mit ihren deutschsprachigen Texten knüpft die Formation an die bewährte Tradition der vergangenen Alben an. Gleichwohl wurde die aktuelle Produktion unüberhörbar auf internationales Niveau gehoben. Hier blitzen neben Metal, Gothic Rock, Neuer Deutscher Härte auch Einflüsse der 1980er Jahre aus dem Genre Hard’n’Heavy auf.

Wer als Band im Bereich Industrial/Neue Deutsche Härte unterwegs ist, wird um Vergleiche nicht herum kommen. Diese gibt es immer wieder und bei Titeln wie "Rabenvögel" und "Eisige Schönheit" treten Ähnlichkeiten mit Unheilig zutage. Die Gruppe um den Sänger und Songschreiber Der Graf ("Geboren um zu leben", "So wie Du warst") hatte sich 2016 nach 17 Jahren aus dem Musikgeschäft zurück gezogen. Der Vorteil solcher Vergleiche ist immer, dass Fans besagter Bands auch ein Auge auf ähnliche Produktionen werfen könnten. Eine Garantie gibt es freilich nicht.
Hinzu kommt, dass "Schattenwandler" ein völlig eigenständiges Album mit eigenen Kompositionen ist. So sollte es unbedingt auch wahrgenommen werden.

Der Titelsong eröffnet mit einem kompletten Orchester auf 30 Sekunden Länge, ehe es genretypisch weiter geht. Dieser Auftakt ist durchaus originell und bringt in die ohnehin facettenreiche Musik noch mehr Abwechslung. Für mich ist der Opener zugleich mein Lieblingstrack auf dem Album.
Auf "Geliebter Feind" begegnen uns Gitarren und Elektroklänge. Der Titel ist nicht opulent, sondern sachlich in Strophe und Refrain gegliedert und setzt vielmehr auf die Textaussage. Der etwas selbstironische Song erinnert an die dunkle Seite, die wohl in jedem von uns steckt. Der eigene Feind eben.

"Rabenvögel" hat Hymnencharakter und einen Refrain zum Mitsingen, wie es Fans bei Konzerten lieben. "Psycho" kennt keine Zurückhaltung bei den Gitarren und zeigt mit eingängiger Melodie eine der Stärken von Nachtgreif auf. Diesem Konzept folgen "Asche", "Babylon" und die meisten der folgenden Stücke.
Eine wunderschöne Nummer ist "Wenn sie kommt". Zu Pianoklängen und Gitarren gesellen sich Gesang und Cellospiel. Das Stück ist verträumt, aber dennoch ein typischer Vertreter des Genres. Hinzu kommt der eingängige Refrain.
Die Tracks sind nicht überfrachtet mit zu vielen Instrumenten. Doch sie zeigen sehr farbenreich die Möglichkeiten des Genres auf.

Live werden die Hörer sicherlich auf ein paar Gastmusiker stoßen. Die bereits 1989 formierten Oomph! hatten es frühzeitig vorgemacht, denn die anspruchsvollen Produktionen lassen sich in einer Drei-Mann-Besetzung nicht in voller Wirkung auf der Bühne umsetzen.

Keine Musikrichtung hat mich auf Anhieb so in den Bann gezogen wie Industrial/Neue Deutsche Härte. Das Album "Schattenwandler" von Nachtgreif hat dazu beigetragen, dass diese Faszination neue Nahrung erhalten hat. Volle Punktzahl deshalb für die ambitionierte Band aus Kaiserslautern.


Line-up Nachtgreif:

Thorsten Fries (vocals)
Bernd Basmer (guitars, bass, electronics)
Arndt hebel (drums, percussion)

Tracklist "Schattenwandler":

  1. Schattenwandler
  2. Geliebter Feind
  3. Psycho
  4. Rabenvögel
  5. Bis kein Licht mehr scheint
  6. Asche
  7. Babylon
  8. Tiger
  9. Angst
  10. Wenn sie kommt
  11. Resilient
  12. Eisige Schönheit (Version 2020)

Gesamtspielzeit: 56:59, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Mario Keim

Musikstile: Heavy Rock, Rock, Deutschrock, Hard Rock
Marios Beiträge im RockTimes-Archiv

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