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Neronia / Second World – CD-Review

Neronia / Second World

Neronia waren im Römischen Reich mehrtägige Spiele, unserer heutigen Olympiade nicht unähnlich, doch hier wurde auch Musik und Dichtkunst in den Wettbewerb gestellt und der geistige Vater der Spiele, Kaiser Nero selbst, soll im Jahre 65 nach Christus mit einem Gedicht in den Wettstreit gezogen sein. Man kann den damaligen Gästen nur wünschen, dass seine Dichtkunst besser war als das, was später in "Quo Vadis" verfilmt wurde: »Ohoooooo, lodernd Feuer, ohoooooo, verschlingende Macht« – mit viel Geheule und Gejaule; unvergessen der geniale Peter Ustinov in der Rolle des dekadent perversen und künstlerisch erschütternd begrenzten Nero.
So viel darf ich vorweg nehmen, Neros zweifelhafte Gesänge bleiben uns auf auf "Second World" erspart, es herrscht eher ein Überangebot an Wohlklang.

Ja, Neronia bewegen sich in einer Komfortzone, die eher auf glatt polierte Kompositionen und übersichtliche Sounds aus ist denn auf allzu progressive Innovation. Die zusammenhängenden Songs haben vergleichsweise wenige Höhepunkte, man scheint sehr bemüht zu sein um einen einheitlichen Flow. Gut, ein Stück weit ist das verständlich, denn "Second World" präsentiert sich als Konzeptalbum mit einer durchgehenden Geschichte.

Der sehr stimmige Auftakt durch das sphärische "Chaos" und mehr noch beflügelt durch die einnehmende, melancholische Melodik in "Here I Am" macht Hoffnung auf eine Reise durch ein spannendes Album. Der Kontrast zu Michael Steins (früher festes Mitgleid der Band, hier nur als Gastmusiker aktiv) Keyboard-Opener zur nächsten Nummer "What Else Now" packt noch einmal an, doch dann stürzt der Spannungsbogen irgendwie ab und ich fühle mich zurück versetzt in eine Art Verwertungsstätte für Neunziger Jahre Prog.

Es gibt einige schöne Gitarrenmomente, gerade wenn in John Mitchell-Manier die Saiten reflektiv aufmachen dürfen und sich um Falks Gesang legen wie in "Grey Day" oder "Missing Link", doch auch hier beim zuletzt genannten Song schwächelt die Aufnahme im Solo, das aus meiner Sicht viel zu weit unter die eher träge dahin treibende Sound-Basis herunter geregelt wurde. Da hätte man es knallen lassen können, tut es aber nicht. Überhaupt scheint mir die gesamte Produktion eher auf ausgeglichene Amplituden denn auf pulsierende Sounds gepolt zu sein, so als ob man Emotionen auffangen wolle, bevor diese zu hoch schießen könnten. Das kann nur nach hinten losgehen.

Problematisch empfinde ich manche Anleihen, die ich nur schwerlich als Zitate bezeichnen kann. Wenn in "Kiss Of A Rainbow" einer derart verwandte Hookline im Stil von "Still I’m Sad" verwendet wird, eben ganz nah an der Version von Rainbow und mit einer fast wörtlichen Adaption des Songtextes der zitierten Nummer, dann beschleicht mich eher ein merkwürdiges Gefühl. Die Anspielung im Songtitel auf Ritchies Band zeigt immerhin, dass man diesen Bezug wohl nicht kaschieren, sondern ausdrücklich herausstellen wollte. Aber da bitte ich um Verständnis, da bleibe ich beim zitierten Original.

Dafür lebt "Different View" von eingängigen Riffs, die mit stimmigen Breaks kontrastiert werden. Einprägsame Hooklines treiben voran und endlich darf die Gitarre sich ein wenig aus der Umklammerung lösen und haut zum guten Schluss sogar eine Slide-Einlage raus. Das passt, diese Nummer hat Drive und Groove – boah, immer dieses Denglish. Doch egal, wie immer man das formulieren möchte, genau das ist der Spirit, den "Loud And Proud" aufnimmt und hier will ich die Textzeilen »big wheels keep on turning … eye of the tiger … cold as ice… loud and proud, it’s simply Rock ’n' Roll« wirklich als Zitate stehen lassen und als Bekenntnis zu den eingeflochtenen Songtiteln vergangener Tage. Hier wagt sich die Gitarre mehr als irgendwo anders aus ihrem Kokon und die Stimmungswechsel innerhalb des Tracks sind nirgendwo stimmiger als hier. Kein Wunder, dass nach diesen Reminiszenzen auf große Klassiker früherer Dekaden ein stimmiges Finale euphorisch "Center Of My Dreams" benannt werden darf, mit dem sich der Zirkel zum Text in der ersten Vokalnummer "Here I Am" schließt. Sicherlich ein Statement der Band mit Herzblut und aus Überzeugung und so versöhnt das Ende für einige Längen auf dem Weg hinein ins Zentrum. Es ergibt sich ein Spannungsbogen, der am Anfang und am Ende seine größten Ausschläge hat, so etwas ist mir bislang auch noch nicht begegnet.

"Second World" ist ein solides, aber eher durchschnittliches Album aus dem weiten Feld des Progressive Rock mit einigen schönen melodischen Wendungen, aber ohne jedes Risiko zu markanten musikalischen Einfällen. Vieles wirkt schlicht bekannt und irgendwie schon mal gehört. Die Strukturen der Lieder sind aus meiner Sicht viel zu vorhersehbar, auch wenn es mitunter sehr nette Momente gibt. Sie erreichen nicht die Ausdruckskraft der offensichtlich als stilprägend empfundenen Neunziger-Jahre-Progger Shadowland, von deren Köpfen Clive Nolan und Karl Groom sich die Vorgängerband Ulysses einst bei ihrem ersten Album unterstützen ließ und erst recht nicht die Qualität der scheinbar allgegenwärtigen Arena. Langjährige Fans dieser Formationen  werden aber auch Neronia einige positive Aspekte abgewinnen können, wenn sie sich gern an die Anfänge der zitierten Bands erinnern. Und dafür werfen Neronia zur Belebung gelegentliche Metal-Anleihen in den Ring, die für eine gewisse Spannung und Abgrenzung sorgen.

Unentwegte und hart gesottene Neo-Progger werden vermutlich ihren Spaß haben, insgesamt erscheint das Werk aber doch wenig einfallsreich und zu glatt gebügelt.


Line-up Neronia:

Falk Ullmann (vocals)
Ruediger Zaczyk (guitar, vocals)
Lutz Beberweil (bass, vocals)
Dirk Hartel (drums, percussion, vocals)

guest:
Michael Stein (keyboards)

Tracklist "Second World":

  1. Chaos
  2. Here I Am
  3. What Else Now
  4. Kiss Of A Rainbow
  5. Grey Day
  6. Rhythm Of Life
  7. Missing Link
  8. Different View
  9. Control Your Life
  10. leave The Past Behind
  11. Loud And Proud
  12. Center Of My Dreams

Gesamtspielzeit: 44:11, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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1 Kommentar

  1. Ein Freund

    Liebe Freunde,

    Checked nochmal das Line-Up.
    Der aktuelle Drummer hat das Album nicht eingespielt!

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