Ein wenig 'Verbraucherinformation' darf es schon mal sein. Das gilt auch für ein zünftiges BAP-Konzert und so heizt Wolfgang Niedecken am Ende des musikalischen Reigens schon mal ein wenig die Vorfreude auf das am 2. November 2018 erscheinende Album "Live und deutlich" an. Der Sänger erzählt in einer kurzen Geschichte, wie das Album unter 'Protesten' der Fans entstanden ist, weil diese sich sehnlichst einen solchen Mitschnitt gewünscht hatten. Das war zu einem Zeitpunkt, als die ersten zehn Konzerte der laufenden Tour absolviert waren und die deutsche Nationalmannschaft gerade bei der Fußball-WM ihre Koffer packen musste, erinnert sich der leidenschaftliche Fußballfan.
Nach der Werbebotschaft folgt der zuvor versprochene, letzte Titel, das Abschiedslied "Jraaduss". Zu diesem Zeitpunkt liegen hinter Publikum und den Akteuren auf der Bühne nicht weniger als drei Stunden Konzert.
In Anbetracht der enormen Spieldauer von exakt 195 Minuten passt auf zwei CD- oder vier LP-Seiten natürlich nicht die volle Konzertdauer – aber dennoch ein beträchtlicher Teil.
Waren BAP 2006 noch in der heimischen Köln-Arena angetreten, zum 30-jährigen Bandgeburtstag dreieinhalb Stunden ein musikalisches Feuerwerk zu zünden, so präsentiert das Konzert anno 2018 ohne zusätzlichen festlichen Anlass ebenfalls eine Spieldauer, die nahezu jeden Auftritt einer anderen Band zu einer Kurzzeitshow werden lässt.
Dabei ist bei der Kölner Formation kein Spannungsabfall zu erkennen und auch die Kondition des 67-jährigen Frontmannes nötigt höchsten Respekt ab.
Die Dramaturgie der 28 Stücke ist perfekt auf Lieder aus der gesamten Bandgeschichte angelegt. Ältere und jüngere Fans kommen dabei gleichzeitig auf ihre Kosten. Allein vom 1981er Album "Für usszeschnigge!" (Kölsch für "Zum Ausschneiden") erklingen fünf Stücke, darunter "Waschsalon", "Frau, ich freu mich" und "Verdamp lang her".
Der Titel des 2011er Livealbums "Volles Programm" gab dem Abend das treffende Motto, was konkret bedeutet: Vollen Einsatz mit drei Bläsern. Hier agierten Axel Müller (Saxofon), Christoph Moschberger (Trompete) und F. Johannes Goltz (Posaune). Für Niedecken war ihr Mitwirken eine besondere Freude, denn Bläser seien zwar öfter im Studio zu hören, selten aber live.
Das Trio agierte dezent im Hintergrund, manchmal aber durften sich die Akteure auch solistisch zeigen. Dabei war unüberhörbar bzw. unübersehbar, dass Axel Müller aus dem souverän agierenden Trio der Star des Publikums war.
So etwas wie ein heimlicher Star in der angestammten Band ist Multiinstrumentalistin Anne De Wolff. Die gebürtige Dresdnerin war 2006 das erste Mal als Gast zu hören und ist seit 2014 festes Ensemblemitglied bei BAP. Auch sie agiert zumeist im Hintergrund, doch lenkt ihr Einsatz die Blicke der Zuhörer magisch auf sich. De Wolff beherrscht Violine, Bratsche, Cello, Mandoline, Gitarre, Posaune, Perkussion und scheut selbst nicht vor dem Waschbrett als Instrument zurück.
Trotz erweiterter Bandbesetzung und einem waschechten Rockkonzert bleibt immer wieder Platz für Wohnzimmeratmosphäre, was nicht zuletzt der Bühne mit Showtreppe und Südstaaten-Kulisse geschuldet ist. Letzteres ist eine Referenz an das letzte Solo-Album Niedeckens, das den Titel "Reinrassije Stroossekööter – das Familienalbum" trägt. Der Titelsong, der Cajun-Punk "Jebootsdaachspogo" sowie die neu aufgenommenen Klassiker "Chippendale Desch", "Bahnhofskino" und "Et ess lang her" erklingen im Konzert.
Mit dem Familienalbum verbindet Niedecken eine Zeit in New Orleans und dieser Geist ist zum Greifen nah. Daneben gibt es sehr viel Privates, indem auf der Leinwand im Hintergrund wiederholt Fotos aus dem Familienalbum des Künstlers zu sehen sind. Der Songwriter und Sänger garniert damit seine Anekdoten, die nie langatmig und langweilig, sondern kurz gehalten sind.
Auch zeigt sich der sozial engagierte Musiker in seinen Ansprachen eher zurückhaltend, zollt lediglich den Teilnehmern der bundesweiten Demonstration unter dem Motto 'Solidarität statt Ausgrenzung' am Tag zuvor in Berlin seinen Respekt und erntet dafür Beifall.
Vor dem Titel "Kristallnaach" macht er kurz auf sein Hilfsprojekt 'Rebound' aufmerksam. Zusammen mit der Organisation World Vision hat der Musiker ein Programm ins Leben gerufen, das ehemalige Kindersoldaten und Kinderprostituierte unterstützt. Dabei belässt es Niedecken. Der Rest des Abends ist pure Rockmusik, stilistisch erfrischend abwechslungsreich. Die Geschichte der 1976 in Köln gegründeten Band blitzt dabei ebenso auf wie der Anspruch des Solokünstlers mit seinen eigenen Alben. Niedeckens BAP anno 2018 verbindet beide Elemente in einem Konzertreigen.
Erstaunlich, wie textsicher die Fans aus Mitteldeutschland die Stücke in Kölsch Zeile für Zeile mitsingen. Bei "Stell dir vüür" und " Verdamp lang her" stimmen zu vorgerückter Stunde alle Besucher im Haus Auensee in den Refrain ein. Abnutzungserscheinungen kennen weder Publikum noch die Akteure auf der Bühne.
Angenehm und bei Konzerten schon selten zu beobachten war das entspannte Agieren der Security am Eingang. Das schien sich auf die gesamte Zuhörerschar zu übertragen und den Musikern merkte man ohnehin an, dass diese sich auf den Abend gefreut haben. Immerhin ist die Örtlichkeit seit vielen Jahren fester Bestandteil im Tourkalender von BAP.
Um noch einmal kurz auf das eingangs erwähnte Album zurück zu kommen: »Live-Alben habe ich schon immer gemocht«, freut sich Niedecken, »weil sie den Sound einer Band echt und authentisch einfangen und gleichsam auch ein Zeitdokument sind. Konzertmitschnitte halten im Idealfall fest, wie eine Band genau zu diesem Zeitpunkt klingt.«
Insofern konserviert dieses Zeitdokument ein Konzerterlebnis, das ein angenehmer Musikmarathon war.
Ein spezieller Dank geht an meinen Bruder, Stephan Keim, für die Konzertfotos.
Line-up Niedeckens BAP:
Wolfgang Niedecken (Gesang, Gitarre)
Ulrich Rode (Gitarre)
Werner Kopal (Bass)
Michael Nass (Keyboard)
Sönke Reich (Schlagzeug)
Anne De Wolff (Violine, Bratsche, Cello, Mandoline, Gitarre, Posaune, Perkussion)
Gäste:
Axel Müller (Saxophon)
Christoph Moschberger (Trompete)
F. Johannes Goltz (Posaune)
Setlist:
- Drei Wünsch frei
- Waschsalon
- Psycho-Rodeo
- Diss Naach ess alles drin
- Deshalv spill mer he
- Reinrassije Strooßekööter (Niedecken Solo-Song)
- Chippendale Desch
- Es es, wie’t ess
- Bahnhofskino
- Jupp
- Frau, ich freu mich
- Dausende vun Liebesleeder
- Weißte noch?
- Anna
- Wie schön dat wöhr
- Do kanns zaubere
- Nemm mich met
- Absurdistan
- Vision von Europa
- Kristallnaach
- Arsch huh, Zäng ussenander
Zugabe I:
- Ruut-wieß-blau querjestriefte Frau
- Nix wie bessher
- Jebootsdaachspogo
- Aff un zo
Zugabe II:
- Stell dir vüür
- Verdamp lang her
- Jraaduss
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