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Nobody.One / Mercy, Please Mercy! – CD-Review

Nobody.One / Mercy, Please Mercy!

War es nur eine freudsche Fehlleistung meinerseits, dass ich beim Projekt Nobody.One instinktiv an Yngwie Malmsteen denken musste? Dieser hatte mich einst vor vielen Jahren mit dem tollen Live-Album "Live At Leningrad" umgehauen, wenn man mal von der Aufnahmequalität absieht. Leningrad heißt ja längst wieder St.Petersburg und genau dort her stammt Sergey Tabachnikov, der Mann hinter Nobody.One. Und er ist ein Gitarrenvirtuose vor dem Herrn, die Assoziation war dann doch nicht so falsch, auch wenn beide spieltechnisch einen deutlich unterschiedlichen Ansatz wählen. Und während sich Yngwie mit der herausragenden Stimme eines Joe Lynn Turner aus Hackensack, New Jersey umgab, entschied Sergey schon im zarten Alter von 15 Jahren, dass seine Musik eben auch ohne Gesang ganz gut klingen könne. Und sein erster, selbst geschriebener Song, "JB", ist bis heute einer seiner gefragtesten Live-Acts. Cool.

So gesehen erscheint mir ein Vergleich mit Joe Satriani besonders plausibel, aber das Begleitmaterial nennt unter anderem auch Metallica oder Black Sabbath als Einfluss-Größen. Dem gilt es auf den Grund zu gehen. Mit Erstaunen las ich, dass "Mercy, Please Mercy!" bereits die sechste Veröffentlichung des jungen Russen darstellt, der seine umfangreichen Touren bislang aber quasi ausschließlich auf die früheren Sowjet-Staaten konzentriert hat. So gesehen mag es nicht verwundern, dass hierzulande weder Sergey noch seine Formation umfangreicher bekannt geworden sind. Im nächsten Jahr soll eine Europa-Tournee anstehen, wenn denn fiese kleine Lebewesen dies nicht wieder verhindern werden.

Die Struktur der Musik auf "Mercy, Please Mercy!" ist denkbar einfach, doch die einzelnen Nummern sind raffiniert und ausgefeilt. Elf instrumentalen, kompakten und gitarrenlastigen Nummern begegnet zum Ende hin eine längere psychedelisch-elektronische Meditation, Ashra haben das 1980 auf "Belle Alliance" mal recht ähnlich in Szene gesetzt.

O.K., wenn ich von rein instrumentalen Songs spreche, nehme ich ausdrücklich die kurze eingespielte Rap-Einlage in "The Rover" aus. In der Tat haben die Nummern ein wenig vom Flair eines Joe Satriani: Knackige Einleitung, abgefahren mitreißende Hooklines und halsbrecherische Fingerakrobatik. Schöne Breaks sorgen für einen energetischen Fluss und manch einen Steigerungslauf wie in dem wilden "Bright Light Night", das zum Ende hin plötzlich ganz sanft aus dem Kontext gerissen wird und fast wie bei Al Di Meola ins Nirwana driftet. Der Reigen an hinreißenden musikalischen Ideen und melodischen Einfällen ist dabei das herausragende Kriterium dieser fesselnden Musik. Ist es eben die russische Seele voller Melancholie und Sehnsucht, die sich hier manifestiert? Man mag es fast glauben, wird dann aber gleich mit heftigen Riffs und krachenden Rhythmen beschossen – ganz stark. Ab und an findet man leichte Anspielungen in Richtung Fusion, Herrn Di Meola hab ich ja schon zitiert, doch die Basis steht immer tief in harter Rockmusik mit leichten Ausschlägen mal in Richtung Metal (gleich im Opener "Jaguar" bekommen wir davon eine fetzige Kostprobe), dann wieder zu etwas poppigeren Gestaltungsformen wie in dem  leichten, fluffigen "Sombrero".

Die Professionalität der Songs lässt sich neben der Virtuosität des Musikers auch an anderen Merkmalen festmachen. Etwa vier Jahre schrieb Sergey an diesen Nummern und spielte sie im Verlauf von sechs Monaten ein. Das klingt sehr nach einem Plan. Und das hört sich auch so an.

Die meiste Emotion steckt wohl im halben Titelsong "Mercy", eine begnadete nachdenkliche Melodie, die uns sanft reflektierend den Weltschmerz nahe bringt. In der zweiten Solophase des Songs klingt die Gitarre erst zart wie einst bei Blonkers "Indigo", doch dann fliegen die Licks wie freigelassene Schmetterlinge in die Sphären. Und das unglaublich sphärische "You Are Here" ist ein Esoteriktrip für Feinschmecker. Ganz toll das kaum wahrzunehmende Saxofon im Hintergrund, ganz minimalistisch, ganz zart. Ab und zu kleine Glöckchen, die mich an die Zeremonien buddhistischer Mönche erinnern, ein sehr spirituelles Werk von satten zehn Minuten.

Mein Lieblingsgitarrist aus dem großen wilden Reich des russischen Bären war schon immer Ilya Lipkin, ein fantastischer Instrumentalist aus dem Bereich Heavy Psych Blues, seine Band The Re-Stoned kann ich wärmstens empfehlen. Doch es lohnt sich auch so, einen Blick über den immer eiserner werdenden Vorhang zu werfen, den unsere Medienlandschaft in einer Art Kalter Krieg 2.0 tagtäglich auf so peinliche Weise herbeizureden versucht. Sie tun so, als ob hinter jedem Baum ein böser Russe versteckt ist, der nur darauf wartet, uns den Schädel einzuschlagen. Vielleicht sollte man den abendlichen Märchenerzählern mal nahe bringen, wer damals eigentlich wen überfallen hat. Dort drüben sitzen auch nur Leute wie wir, die in Frieden leben wollen. Die all das gerne mit uns teilen würden. Und sie haben erstaunliche Nachwuchsmusiker, die sich unabhängig von westlichen Vermarktungsgebaren entwickeln. Selbstredend mit jeder Menge Wurzeln aus unserer westlichen Musik, Metallica und Black Sabbath waren bekanntermaßen keine Russen. Sergey Tabachnikov legt eine stilistische Vielfalt und Virtuosität, die für einen Mittzwanziger absolut erstaunlich ist. Nobody.One sollte man im Auge behalten.
Die physischen Versionen von "Mercy, Please Mercy" werden übrigens über die Webseite der Band vertrieben.


Line-up Nobody.One:

Sergey Tabachnikov (guitar, bass, keyboards)
Roman Petrosyan (drums, saxophone, percussion)
Mikhail Kozodaev (drums – #5)

Tracklist "Mercy, Please Mercy!":

  1. Jaguar
  2. Tribe Solder
  3. Sombrero
  4. Mercy
  5. Dust Boy
  6. Flower Unplucked
  7. Shark Groove
  8. Suffer
  9. The Rover
  10. Bright Light Night
  11. Overcome
  12. You Are Here

Gesamtspielzeit: 50:16, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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