
Die Geschichte von den Meeresungeheuern Scylla und Charybdis, zwischen denen einst Odysseus durchgesegelt ist, kennen die Freunde der Antike aus der griechischen Sage. Mir sind diese merkwürdigen Wesen allerdings erst in dem feschen Science Fiction "Wing Commander" bekannt geworden, wo Scylla der Name einer Zeit-Raum-Verschiebung war, die Raumschiffe zum Frühstück fraß. Erstaunlich, wie die Pop-Kultur oft alte Sagen absorbiert und wiederverwendet.
Obsolem stammen aus dem Norden von Paris und das Projekt war ursprünglich als eine Solo-Nummer von Multi-Instrumentalist Greg Francoise gedacht. Ziel war von Beginn an, ein Konzeptalbum zu produzieren und über mehrere Jahre wuchs die Zahl der komponierten Songs, deren stimmigste letztendlich in dieses Debüt-Album eingeflossen sind. Die Bandseite skizziert kurz und knapp die Botschaft des Albums: »Between Scylla And Charybdis ist ein modernes Märchen über die Menschheit und ihre Technologie. Wenn Maschinen menschlicher werden als der Mensch selbst und die Zeit wie Regentropfen an einer Fensterscheibe hinab läuft.«
Was mich total fasziniert: Schon beim ersten Reinhören hab ich hier und da tatsächlich das Gefühl, auch hier einer Film-orientierten Musik zu lauschen. Mir geht sofort Tom Tykwers "Winterschläfer" durch den Kopf, bei dem er damals selbst an der Musik mitgearbeitet hat und in dem es irgendwie auch um das Thema Zeit geht – die Zufälligkeit von Ereignissen und ihre mitunter katastrophalen Konsequenzen. Und dann lese ich, dass die Band unter anderem Hans Zimmer als Referenz benennt. Einen legendären Film-Musiker. Erste Gefühle sind oft gar nicht so schlecht. Na klar, progressiver Rock hat eine Menge mit Bildern zu tun, egal ob auf dem Bildschirm oder nur im Kopf.
Nach dem sphärischen Intro "Between Scylla…" gleiten wir in das majestätische "Cherry Blossom", in dem viele Eigenschaften von Obsolem deutlich werden. Ein reduziertes, repetitives Piano, das oft melancholisch wirkt, manchmal sogar ein wenig Verlorenheit ausstrahlt (das gab es bei Tom Tykwer übrigens auch sehr schön), über dem sich unterschiedlich mächtige Soundscapes aus sowohl Riff gespeisten als auch im Hintergrund kreiselnden Gitarrenklängen eigenartig organisch mit den pointiert eingesetzten Keyboards verschmelzen. Und darüber führt die leicht geheimnisvolle Stimme von Leia Oo durch eine durchaus dunkle Welt. Das melancholisch schöne Cover in dezentem schwarz-weiß ist eine treffende Metapher für die Atmosphäre, in der wir uns auf diesem Album befinden und die ein Stück weit eine Parabel sein kann, auch auf die gegenwärtige Dunkelheit in Zeiten allgegenwärtigen Kontrollverlusts im Angesicht einer mikroskopisch kleinen Lebensform. Die sensibel und nicht überstrapaziert gesetzten Gitarrensoli sind übrigens Klasse und haben aus einer sicherlich David Gilmour orientierten Ausrichtung einen starken eigenen Duktus voller quirliger Lebendigkeit.
"Enter The Maze" mit leicht Industrial geprägtem Intro treibt elegant und stark von Leias Gesang geprägt über mal Keyboard-, mal Gitarren befeuerten Energieströmen. Extrovertierte Drums unterstreichen den Drive dieser Nummer. Aus den düster bedrohlichen Sounds in "Skydrops", die ich in dieser Form von vielen psychedelischen Bands schon gehört habe, treiben wir hinüber zu "Narcisse". »Mirror, mirror, look at me« singt Leia, ein schönes Wortspiel auf eine surreale Welt? Wir treiben in einen hypnotisch voranschreitenden Rhythmus und die Soundwände im Hintergrund werden immer kompakter. Aus einen kurzen Break entwickelt sich ein sehr schön auf den Fluss des Songs abgestimmtes Gitarrensolo, bevor wir in ein fast okkultes Thema abtauchen. Doch Leia reißt das Geschehen abermals an sich und drückt dem Song mit ihrer Stimmgewalt einen letzten Stempel auf. Cool!
Das traurige Piano zu Beginn von "Vertigo" hat etwas von der Melancholie einer Filmmusik und der Schönheit der unglaublich poetischen Szene mit der Plastiktüte aus dem filmischen Geniestreich "American Beauty". Der einsetzende Rhythmus vermittelt Moderne und übernimmt nach kurzer Zeit vollends die Herrschaft über den Song. Faszinierend, wie sich scheinbar alle Harmonien und sogar die gesprochenen Einlagen allesamt diesem Drive unterordnen. Und wenn die Gitarre aufbegehrt, dann befinden wir uns plötzlich in Soundwelten, die Monkey 3 zuletzt auf "Sphere" beackert haben.
Wenn "Diabolus Ex Machina" zu Beginn leicht orientalisch aufmacht, sind wir abermals ganz nah bei der Filmmusik zu "Winterschläfer" angelangt. Doch der aggressive Rap, der sich fortan über kräftigen Gitarrenriffs ausbreitet, erinnert mich intuitiv an die Unruhen mit desillusionierten jugendlichen Migranten im Großraum Paris, die in den letzten Jahren für immer mehr Unruhen gesorgt haben. Leia Oo tritt diesen wilden Fragmenten wie ein guter Geist entgegen, doch das getragene Gitarrensolo entwickelt sich letztendlich aus den giftigen Hooklines – der Song heißt ausdrücklich nicht Deus Ex Machina.
Über eher sanften, repetitiven Klängen legt sich ein scheinbar endloser "Run Like Hell"-Shuffle, düstere Wolken ziehen auf, die Riffs werden härter, Dynamik und Intensität legen mehr und mehr zu. "…And Charybdis" vervollständigt die Reise zu Menschen, Maschinen und dem Wesen der Zeit. Über der Musik entwickelt sich ein kurzer Dialog, der im Übrigen aus dem legendären Sergio Leone Film "Der Gute, der Böse und der Hässliche" stammt. Ebenfalls ein sehr geiler Film und wie "Winterschläfer" einer meiner persönlichen Favoriten.
Ein sehr ausgeprägtes Keyboard wechselt nun von erst nachdenklich bedrohlichen Szenarien über hypnotischen Trommelschlägen zu sehr viel wärmeren Klängen und bereitet der Gitarre ihren großen Auftritt vor, denn ein fettes floydsches Outro hebt nun das Gefühl. Über immer mehr schwelgenden Keyboard-Wänden und dezenten Riffs baut sich die richtige Spannung auf für ein ausladendes Gitarrensolo zum Finale. Schöner Spannungsbogen. Doch zuletzt beschränkt man sich auf Riff-Einschläge und repetitive Keyboardlines, die zuletzt in der Brandung zu versinken scheinen; dem Sound, mit dem das Album vor knapp 55 Minuten begann. Bei "Close To The Edge" hat man das am Ende auch so gemacht, aber da vergleichen wir dann doch eher Äpfel mit Birnen.
Dieses Album überzeugt mit seinem höchst eigenständigen Stil und seiner eindrücklichen Klangmalerei. Progressive Musik mit ganz viel Gefühl für Stimmungen und Atmosphäre, das lass ich mir gerne gefallen. Man darf gespannt sein, welche Kreationen im Hause Obsolem in Zukunft auf uns warten werden.
Line-up Obsolem:
Leia Oo (vocals)
Greg Francoise (guitar, bass, keyboards)
Peter Coutouly (bass)
Franck Schaak (drums)
Guests:
Kriss 101 (vocals – #8)
Red Dito (keyboards – #9)
Celine D. Caumont (speaker – #6)
Liliane Caumont (speaker – #6)
Michel Ickx (speaker – #6)
Blondie / The Man With No Name (speaker #9)
Tracklist "Between Scylla And Charybdis":
- Between Sylla…
- Cherry Blossom
- Enter The Maze
- Skydrops
- Narcisse
- Vertigo
- The Curse
- Diabolus Ex Machina
- …And Charybdis
Gesamtspielzeit: 54:20, Erscheinungsjahr: 2020
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