«

»

Octopus / The Boat Of Thoughts – LP-Review

Octopus - "The Boat Of Thoughts" - LP-Review

Ich weiß ja nicht, ob ihr das kennt: Manchmal legt man eine neue Platte aus der Vergangenheit auf und der Sound, das komplette Feeling und auch der Gesang bzw. die Melodieführung hauen einen buchstäblich um, weil man urplötzlich in ein längst vergangenes Jahrzehnt zurück katapultiert wird. Ein extremes Gefühls-Deja-Vu überfällt einen und man kann Szenen aus der eigenen Vergangenheit nahezu physisch greifen, geradezu die Luft wieder riechen, die einem damals um die Nase blies. Genau so erging es mir, als ich vor etwa einer Handvoll Tagen das bisher noch nie gehörte Debütalbum der damals im hessischen Hanau ansässigen Band Octopus zum ersten Mal laufen ließ. Und wie ich erst danach feststellen durfte, erging es meinem geschätzten Kollegen Ulli bei seinem CD-Review ähnlich, wenn auch wesentlich konkreter. Denn nicht nur kannte er das Album bereits seit langer Zeit, er hatte die Band damals auch schon live gesehen und sogar die Ehre, die Frontlady Jennifer Hensel nach der After Show Party ins Hotel chauffieren zu dürfen.

Octopus wurde im Jahr 1973 von dem Gitarristen Pit Hensel und dem Bassisten Claus Kniemeyer gegründet, die sich nur unmittelbar danach mit dem Tastenmann Werner Littau, der bereits erwähnten Sängerin Jennifer Hensel und dem Drummer Dieter Becke (der später durch Frank Eule ersetzt wurde) verstärkten. Der erste Versuch ein Album aufzunehmen scheiterte noch, da dem Produzenten das Geld ausging, anschließend nahm die Band ihr Debüt "The Boat Of Thoughts" durch eigene Finanzierung auf. Bei den vorliegenden Songs handelt es sich im positivsten Sinne um den damals in Deutschland angesagten Kraut- und Prog-Sound, der jedoch keine internationalen Vergleiche zu scheuen braucht. Mal ein ’schwerer' Orgel-Sound, dann wieder spritzige Moog-Synthies, ein sehr verspielter Bass, die alles zusammenhaltenden Drums, die manchmal hart riffende und dann wieder mit sehr starken Soli glänzende Gitarre sowie der tolle Gesang finden auf dieser Platte zu einer extrem gelungenen Melange zusammen, die die Band in dieser Qualität – verglichen mit der zweiten und dritten sowie der letzten Scheibe – nicht mehr erreichen sollte.

Zu den von Ulli damals erwähnten Referenzbands Eloy und Novalis, könnten hier auch noch (zumindest was den einen oder anderen musikalischen Part der Songs betrifft) Jane aufgeführt werden. Denn das Quintett hatte tatsächlich ein richtig tolles Händchen dafür, seine Tracks trotz der durchaus vorhandenen proggigen Komplexität ungeheuer eingängig und melodiös zu gestalten. Die Songs fließen sehr angenehm und mit vielen Melodiebögen ins Ohr, analysiert man sie etwas genauer, kann man jedoch teilweise nur den Hut vor den musikalischen Fähigkeiten der Hessen ziehen. Die Texte stammen durchweg vom Bassisten Kniemeyer, während für die Kompositionen Pit Hensel sowie Werner Littau zuständig waren. Wie so oft bei diesem Genre waren die Vocals zwar quantitativ nicht übermäßig vertreten, wurden dafür aber umso effektiver eingesetzt. Dazu hatte Jennifer Hensel, die live auf der Bühne wohl stets im Mittelpunkt stand, allerdings auch eine richtig tolle Stimme, die sowohl sehr eingängig und mit massenhaft Feeling, als auch hart rockend intonieren konnte.

Alle sechs Titel sind spitze, während dem Rezensenten das melancholische, aber auch wütende "If You Ask Me" sowie der Titeltrack am besten gefallen. Aber seine Favoriten darf sich natürlich jeder selbst aussuchen. Letzten Endes wird "The Boat Of Thougths" ein gefundenes Fressen für alle Krautrock-Liebhaber bzw. Fans des deutschen progressiven Rock der siebziger Jahre sein, die diese Platte noch nicht kannten. Das Zweitwerk An Ocean Of Rocks soll musikalisch in die selbe Kerbe wie dieses Debüt schlagen, der Nachfolger "Rubber Angel" nach dem Abgang von Pit Hensel dann schon deutlich kommerzieller ausgefallen sein. Mit ihrem letzten Album Hart am Rand (jetzt auch ohne Jennifer Hensel) wechselte Octopus gesanglich sogar zur deutschen Sprache, was bei den meisten Fans damals jedoch auf große Ablehnung stieß. Aber wie dem auch sei, "The Boat Of Thoughts" ist ein richtiger, glücklicherweise jetzt auch auf 180g-Vinyl wieder aufgelegter, Goldschatz.


Line-up Octopus:

Werner Littau (organ, Moog synthesizers, piano, strings, mellotron)
Jennifer Hensel (vocals)
Pit Hensel (electric- & 12-string acoustic guitars)
Claus D. Kniemeyer (bass)
Frank Eule (drums)

Tracklist "The Boat Of Thoughts":

Side 1:

  1. The First Flight Of The Owl (5:09)
  2. Kill Your Murderer (6:09)
  3. If You Ask Me (6:06)

Side 2:

  1. The Delayable Rise Of Glib (3:18)
  2. We’re Losing Touch (5:49)
  3. The Boat Of Thoughts (9:08)

Gesamtspielzeit: 17:28 (Side 1), 18:09 (Side 2), Erscheinungsjahr: 2019 (1976)

Über den Autor

Markus Kerren

Hauptgenres: Roots Rock, Classic Rock, Country Rock, Americana, Heavy Rock, Singer/Songwriter
Über mich
Meine Beiträge im RockTimes-Archiv
News
Meine Konzerberichte im Team mit Sabine
Mail: markus(at)rocktimes.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>