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Patti Smith / Live In Germany 1979 – DoCD-Review

Patti Smith / Live In Germany 1979

Am 30.12.2021 wurde die 'Godmother Of Punk' 75 Jahre alt. Ich habe es komplett verdaddelt und bin nur durch einen glücklichen Zufall kurz nach dem Jahreswechsel beim Sender Arte über eine entsprechende Dokumentation (Patti Smith – Punk und Poesie) gestolpert, gleich gefolgt von einer mitreißenden Aufnahme eines Konzert von 2005 aus Montreux. Die Doku ist zutiefst bewegend und im Internet hinterlegt, ich kann sie nur empfehlen. Für mich war es der Impuls, meine Regale zu durchforsten, denn ich erinnerte mich, dass ich vor einigen Jahren einmal Gelegenheit hatte, die eher rare Doppel-CD mit dem Rockpalast-Konzert zu erwerben. Gibt es eine bessere Gelegenheit, anlässlich des halbrunden Geburtstags diesen Regalgriff zu präsentieren?
Aber Achtung, es handelt sich um eine Art Bootleg, die Tonqualität kann zum Beispiel mit den grandiosen MIG-Live-CDs nicht mithalten. Hier geht es um den historischen Wert der Aufnahme.

Es war die vierte Rocknacht des WDR-Rockpalasts und die Menschen warteten gebannt auf den Auftritt des legendären Johnny Winter. Die J. Geils Band eröffnete den Abend und dann betrat Patti Smith, die sich bis dahin auch schon als Lyrikerin, Malerin und Fotografin einen Namen gemacht hatte, völlig überdreht die Bühne. Wissend um die Fernsehübertragung und die Möglichkeit, zu so vielen Menschen gleichzeitig sprechen und performen zu können, überwältigte sie völlig. Es gehört zur Musik von Patti Smith, dass sie die Gesangsparts teilweise abwechselnd mit gebetsartigen Rezitationen vorträgt, dann wirkt sie wie eine Priesterin des Rock’n’Roll. Dass sie ausgerechnet mit dem The Byrds-Cover "So You Want To Be A Rock’n’Roll Star" den Set eröffnet, sieht man heute als symbolische Andeutung dessen, was bereits im Hinterkopf heranreift. Der Text versteht sich als eine Reflektion auf Pattis Geschichte, die aus den verruchten Clubs New Yorks plötzlich ins Rampenlicht gerät. Die Konsequenz dessen werden wir ein paar Monate später erfahren.

"Hymn" ist so etwas wie ihr Credo. Die saitentechnische Anspielung auf Jimis "Star Spangled Banner" und ihr Schlachtruf »I’m an american artist« zeigt ihre tiefe Bewunderung für Hendrix und ihr Eigenverständnis, über die Kunst selbst zu maximaler Freiheit zu gelangen. Sie hatte in dieser Nacht so viele Botschaften in sich, die konnte sie schlichtweg gar nicht alle unter die Leute bringen.
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sagte sie dies später selbst, als sie auf das Rockpalast-Konzert angesprochen wurde. Auch Johnny Winter verehrt sie. Man sagt, dass sie zu später Stunde, aber schon in einem bedenklich bedröhnten Zustand zu ihm auf die Bühne kriechen wollte, was den armen Johnny maximal irritiert haben soll.

Das Konzert aber läuft, im Nachhinein betrachtet scheint es geradezu revolutionär und anarchisch zwischen den Gallaghers und Ten Years Afters der frühen Rockpalast-Phase. Pattis Band spielt die Songs voller Improvisation und Leidenschaft, etwas, was die Chefin von ihren Musikern erwartet. »Spielt mir nie an zwei Tagen nacheinander das gleiche Solo«, soll sie früh gesagt haben. Die punkige Attitude der Songs hat ungeheure Wucht und Energie, "Rock’n’Roll Nigger" ist so eine Nummer, die aber insgesamt so klingt, als würden Jimi Hendrix, Big Brother und Janis alle zusammen die Bühne der Grugahalle betreten. Der Drive der Musik generiert sich aus einem geilen psychedelischen Rock und Blues, die Wurzeln unserer Kultur fliegen uns jederzeit um die Ohren. "Privilege" mit der sakralen Orgel hingegen konzentriert sich ganz auf das schon beschriebene Gebetsschema, ein Song, der mir schon damals 1979 unter die Haut ging.

Mit "Seven Ways Of Going" kommen wir fast wieder in den Messe-Modus. Patti bedankt sich beim Publikum und den vereinigten Sendern quer über Europa für die einmalige Chance, die sich am Programm beteiligen – mit deutlichen Verweisen darauf, dass in den Staaten so etwas nicht möglich sei. Tatsächlich war ihr dort auf einer einjährigen Tour einstmals gerichtlich jeglicher Radio-Auftritt verboten worden, weil sie in einem Interview das F-Wort benutzt hatte. »Sie lassen sie Bomben abwerfen auf die Menschen, aber sie wollen ihnen nicht erlauben, Ficken auf ihr Flugzeug zu schreiben, weil das obszön ist«. Colonel Kurtz in "Apocalypse Now", auch 1979. Genau so ist es, heute wieder mehr und mehr in Zeiten, wo Populismus und Propaganda an Bedeutung gewinnen. Der Song bietet zum Ende hin übrigens eine wilde avantgardistische Kakophonie und verstärkt den hypnotischen Geist des Songs.

Fast schon provokativ setzt Patti ihren einzigen kommerziellen Hit direkt hinter diese nachdenkliche Nummer, den von Springsteen und ihr geschriebenen Kracher  "Because The Night", der ihr Album "Easter" an die Spitze der Charts spülte. Ich kann mir nicht helfen, zu diesem Zeitpunkt wirkt Patti Smith – heute im Nachhinein gehört – für mich schon sehr ausgelaugt, wenn sie den Song performt. Vielleicht weil sie den kommerziellen Erfolg nie wollte? Da klingt sie in "Frederick" gleich wieder viel leidenschaftlicher, auch wenn die Nummer zum Ende, abgesehen von den eingestreuten Trillerpfeifen-Pfiffen, recht gefällig ausklingt.

Zum Rausschmiss huldigt Patti Smith ihren Helden. Auch wenn "Jailhouse Rock" natürlich nicht von Elvis geschrieben wurde, ich bin sicher, im Herzen widmete sie ihm diesen Song. Und dann "Gloria"! Na klar, das ist eine Nummer von Van Morrison, aber das, was Patti bereits aus der Studio-Version auf dem Album "Horses" herausholte, kann man maximal als Adaption bezeichnen. Ein klassisches Cover ist etwas anderes. Für mich gehört diese Version zu den schönsten Momenten, die der Rockpalast hervorgebracht hat. Patti Smith macht diese Nummer zu einem Patti Smith-Song. Authentisch, mit Gänsehaut und der legendären Zeile »Jesus died for somebody’s sins but not mine«. Jahrzehnte später versöhnte sie sich mit Gott und Pabst Franziskus bezüglich dieser Zeile: »Es war die Denkweise eines zwanzigjährigen Mädchens und zu diesem Mädchen stehe ich noch immer. Aber auch ich habe inzwischen dazugelernt«. Oder so ähnlich. Was für eine Persönlichkeit, was für eine große Frau inmitten einer immer noch maskulinen Rockwelt.
"My Generation" von The Who macht den Deckel drauf, passt irgendwie – und der Ausklang klingt fast wie das Outro aus "Apocalypse Now". Den hatten wir ja schon.

Wenige Monate später, nach einem Auftritt vor 70.000 Menschen in Florenz, entschwindet sie im Flieger und überlässt die Musikwelt für viele Jahre sich selbst. Sie will nicht mehr. Der Konflikt, als Kämpferin des Undergrounds gleichzeitig derart ins Rampenlicht geraten zu sein, hinterlässt sie verstört und zerrissen. Sie beendet die legendäre Patti Smith Group auf ihrem Höhepunkt. Mit dem Mann an ihrer Seite, Fred 'Sonic' Smith von MC5, hat sie zwei Kinder und lebt zurückgezogen, doch glücklich und vom Familienleben erfüllt. Aber dann stirbt Fred ganz plötzlich 1994 an einem Herzinfarkt – scheinbar geht es in der Vita der ganz Großen nicht ohne solche schrecklichen Schicksalsschläge; erst recht, wenn man weiß, dass sie in diesen Jahren auch ihren Bruder, den alten Freund Robert Mapplethorpe und ihren Pianisten Richard Sohl verliert.

Patti ist wieder aufgestanden, gottlob.
Sie ist eine Ikone des Rock, der Kunst allgemein und der Freiheit; von vielen verehrt. Aber sie blieb immer am Rande der Gesellschaft. Wie sagte sie einst: »Meine Gedichte haben sich zufällig in die Musik verirrt«. Patti war zunächst eher Lyrikerin und brach dann in der Musikwelt zusammen mit einigen Wegbegleitern in Downtown New York eine Entwicklung los, die letztlich die Punk-Ära begründete. Kontakte zum Umfeld von Andy Warhol und Velvet Underground mögen sie beflügelt haben. Sie zeigte dem Establishment immer den langen Finger und zerstörte das gängige Frauenbild, provozierte mit Transgender und Freigeist schon damals in den frühen Siebzigern. Sie war die Stimme jener, die anders waren als der Mainstream und sie stand an der vordersten Front, wenn es um die Rechte der Frau ging.

Ihre Energie war hochgradig ansteckend und ihr charismatischer Auftritt stets beeindruckend. Damals im Rockpalast war sie auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, hatte eine solide Setlist aus vier großartigen Studio-Alben. Ihre Coverversionen und der Tribute an Musiker, die ihr wirklich am Herzen lagen, faszinierten durch ihren punkigen Kokon. Jetzt ist sie 75 Jahre alt. Und eine große Künstlerin, die sich niemals hat verbiegen lassen. Vor allem aber ist sie eine ganz starke Frau, vor der man den Hut ziehen kann – auch wenn das wohl das Letzte wäre, was sie von uns erwartet.
Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Patti, bleib, wie Du bist und uns noch lange erhalten.


Line-up Patti Smith Group:

Patti Smith (vocals, guitar, clarinet)
Lenny Kaye (guitar, bass, backing vocals)
Ivan Kral (guitar, bass, backing vocals)
Jay Dee Daugherty (drums)
Bruce Brody (keyboards)

Tracklist "Live In Germany":

CD 1:

  1. So You Want To Be A Rock’n’Roll Star
  2. Hymn
  3. Rock’n’Roll Nigger
  4. Privilege
  5. Dancing Barefoot
  6. Redondo Beach
  7. 25th Floor
  8. Revenge
  9. 54321 Wave

CD 2:

  1. Pumping (My Heart)
  2. Seven Ways Of Going
  3. Because The Night
  4. Frederick
  5. Jailhouse Rock
  6. Gloria
  7. My Generation

Gesamtspielzeit: 41:33 (CD 1), 42:16 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2012

Über den Autor

Paul Pasternak

Hauptgenres: Psychedelic Rock, Stoner Rock, Blues Rock, Jam Rock, Progressive Rock, Classic Rock, Fusion

Über mich

1 Kommentar

  1. Christian Lorenz

    War damals in Essen dabei. Mit Sicherheit ( bis auf G. Geils Band), einer der Höhepunkte meiner Konzertbesuche. Dabei ist eben alles.

    Grüße

    Hiki

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