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REO Speedwagon / Live At Rockpalast 1979 – CD/DVD-Review

REO Speedwagon / Live At Rockpalast 1979

Lo-Fi Rumpelstilzchen in der dunklen Schreinerwerkstatt

Der WDR-Rockpalast ist eine Institution. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ist es auf den Tag genau 47 Jahre her, dass die erste Rockpalast-Nacht aus der Essener Grugahalle auf Sendung ging. Weniger bekannt dürfte sein, dass bereits drei Jahre zuvor unter dem Label 'Rockpalast' etliche Konzertaktivitäten stattfanden, beginnend mit ELO am 04.10.1974 aus dem Studio Hamburg und Lynyrd Skynyrd am 05.12.1974 aus der Musikhalle Hamburg.

An der Auswahl der Acts lässt sich durchaus ablesen, dass die Macher ihre Rocker-Ohren am Puls der Zeit hatten, so dass spätere Überflieger wie Tom Petty & The Heartbreakers, die Dire Straits oder The Police bereits im Frühstadium ihrer Karrieren zu Gast waren. Eine Little Ol' Band aus Texas ist gar exemplarisch dafür, dass eine Rockpalast-Übertragung Karrieren in Deutschland nachhaltig befeuerte, auch ein karierter Ire mit abgewetzter Gitarre, Gast der eingangs erwähnten ersten Nacht, profitierte nachhaltig davon.

Seit etlichen Jahren wird scheibchenweise der riesige Fundus aufbereitet, um in Ton und Bild der geneigten Rock-Gemeinde Futter geben zu können. Der neueste Fund ist jetzt ein Gig aus der ebenfalls bereits erwähnten Hamburger Markthalle, als dort am 10.11.1979 REO Speedwagon aus Los Angeles ihre Aufwartung machten. Zumindest ist dies die offizielle Lesart, das eher sommerlich gekleidete und schwitzende Publikum hinterlässt diesbezüglich Fragezeichen. Aber vielleicht ist der Klimawandel doch schon länger am Wirken als seine Präsenz auf der politischen Agenda. Oder die Band heizte besser ein als es jedwede moderne Wärmepumpe jemals könnte.

Die Ursprünge der aus Illinois stammenden REO Speedwagon gehen auf das Jahr 1967 zurück, 1971 kam der erste Lonplayer raus, 1976 das erste Live-Album, welches in den USA erstmals für Platin sorgte und erst ein Jahr später konsolidierte sich eine Stammbesetzung, welche nach Los Angeles umsiedelte und mit "You Can Tune A Piano, But You Can’t Tuna Fish" (1978) den Thunfisch … äh … Hering vom Teller zog und Doppelplatin einheimste.

Ein Jahr später kreuzte die Band erstmals in Deutschland auf und promotete ihr neuestes Werk "Nine Lives", was auf dem mir vorliegenden Zeitdokument in Ton und Bild festgehalten ist.
Allerdings scheint selbiges in Form einer seligen VHS-Kassette auf einem arg verstaubten Dachboden gefunden worden zu sein, denn das Bild ist zeitbereinigt mit 'authentisch' sehr wohlwollend umschrieben und der Ton legt die Vermutung nahe, dass wir es hier mit einer wenig gelungenen Soundboard-Aufnahme zu tun haben, die mittelprächtigen Bootleg-Charme versprüht. Auf der DVD ist das noch zu ertragen, aber die ebenfalls enthaltene CD mit dem vollen Konzert ist durch ihre Lautstärkekomprimierung leider komplett ungenießbar. Das ist sehr irritierend, da das Booklet keinerlei Hinweise darauf gewährt, dass diese Aufnahmen unter historischen Gesichtspunkten einzuordnen sind. Jedenfalls klingen offizielle Live-Dokumente aus dieser Zeit in der Regel um Welten besser.

Leider lässt auch die Visualisierung des Bühnengeschehens darauf schließen, dass hier nur sehr rudimentäres Equipment zum Einsatz kam. Insgesamt zwölf Scheinwerferfunzeln 'beleuchten' die Szenerie und tauchen selbige damit überwiegend ins Dunkel. Das wirft unweigerlich die Frage auf, ob solche Zeitdokumente tatsächlich das Licht der Welt erblicken sollten? Und dann auch noch ohne jeden Warnhinweis zum Vollpreis?

Rechtfertigt denn wenigstes die Performance dieses unglückliche Produkt?
Zumindest diese Frage darf bejaht werden, denn die Historie hat gezeigt, dass REO Speedwagon nur ein Jahr später mit dem Multimillionen-Seller "Hi Infidelity" auch in Deutschland durch die Decke gingen und sich ihre High Energy Garage-Rock ’n' Roll-Ausrichtung in funkelnde, glattpolierte, wohlklingende AOR-Perlen transformierte.

In der Markthalle ist jedoch noch eine vergleichsweise junge – und in Deutschland nahezu unbekannte – Band zu sehen, die etwas ungelenk durch das Repertoire ihrer letzten beiden Werke stürmt und das sehr junge Publikum von Minute zu Minute euphorischer werden lässt.
Ja, damals war das Publikum für Gitarren-orientierte Rockmusik mit 'Roll' richtig jung, während heutzutage in diesem Segment bestenfalls noch vereinzelte Boomer hinter dem Ofen hervorzulocken sind.
Allerdings agieren hier REO Speedwagon im direkten Vergleich zu den von mir kürzlich besuchten Toto und Deep Purple wie Rumpelstilzchen in der Schreinerwerkstatt, atemlos und recht eindimensional immer auf die Zwölf, Chuck Berry auf Speed, der passenderweise mit "Little Queenie" und "Rock ’n' Roll Music" auch direkt gecovert wird und mit ansteckendem Drive vorgetragen, so dass richtig Alarm in die Bude kommt und schlussendlich gleich zweimal wieder auf die Bühne zurückgekehrt wird. Gelegentlich lugen auch blitzgescheite Harmoniegesänge hervor, was speziell bei der Großtat "Roll With The Changes" die viel größere Bühne erahnen lässt. Optisch irritiert wiederum eine gewisse Glam-Affinität und Lead-Gitarrist Gary Richrath erinnert frappierend an einen jungen Hape Kerkeling mit Langhaar-Pudel-Perücke, weiß ansonsten seine Paula aber variationsarm wie mitreißend zu bedienen.

Fazit:
Diese Veröffentlichung ist ein Paradebeispiel für das berühmte zweischneidige Schwert.
Einerseits rechtfertigt der Inhalt, wie eine hierzulande fast völlig unbekannte Band ein neugieriges Publikum im Sturm erobert, als zeithistorisches Dokument unbedingt eine Veröffentlichung, gerade in dem historischen Wissen, wie es kurz danach mit REO Speedwagon weiterging.
Andererseits ist die Bild-, und ganz speziell die Tonqualität so schlecht, dass entweder auf eine Veröffentlichung hätte verzichtet werden sollen, oder auf selbiger hätte explizit auf die qualitativen Mängel hingewiesen werden müssen, einschließlich einer angepassten Preisgestaltung.
In dieser Form wird "Live At Rockpalast 1979" der Institution leider überhaupt nicht gerecht.


Line-up: REO Speedwagon

Kevin Cronin (vocals, guitar)
Gary Richrath (lead guitar, backing vocals)
Bruce Hall (bass, backing vocals)
Neal Doughty (keyboards, piano)
Alan Gratzer (drums, percussion, backing vocals)

Tracklist "Live At Rockpalast 1979":

  1. Intro (Pink Panther Theme) / Say You Love Me Or Say Goodnight (5:35)
  2. Like You Do (7:24)
  3. Heavy On Your Love (3:34)
  4. Drop It (3:44)
  5. Only The Strong Survive (4:11)
  6. Easy Money (4:57)
  7. Roll With The Changes (6:20)
  8. The Unidentified Flyin' Tuna Trot (2:17)
  9. Gary’s Solo (3:21)
  10. Back On The Road Again (7:24)
  11. Keep Pushin' (3:44)
  12. Ridin' The Storm Out (6:16)
  13. Little Queenie (4:37)
  14. Rock ’n' Roll Music (4:15)
  15. Golden Country (8:14)

Gesamtspielzeit: 78:14 (DVD), 75:54 (CD), Erscheinungsjahr 2024

Über den Autor

Olaf 'Olli' Oetken

Beiträge im Archiv
Hauptgenres (Hard Rock, Southern Rock, Country Rock, AOR, Progressive Rock)

2 Kommentare

  1. Mario

    Dramaturgisch ist der Produktion sicherlich kein Vorwurf zu machen. Es gibt nun einmal nur dieses eine Konzert von REO Speedwagon im Rahmen der Reihe Rockpalast. Das war 1979. Der Erfolg der Band setzte erst in den 1980er Jahren ein und beschränkte sich weitgehend auf dieses eine Jahrzehnt. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Ausstrahlung im ZDF am 29.01.1983 im Rahmen von „Rockpop in Concert“. Die Aufzeichnung fand am 18.12.1982 in der Dortmunder Westfalenhalle statt. Mit dabei waren REO Speedwagon, Loverboy, Tom Petty & The Heartbreakers, A Flock of Seagulls und Gary Moore. Meine besondere Aufmerksamkeit galt REO Speedwagon und A Flock of Seagulls, die für mich aus dem Rock-Raster fielen und mit Classic Rock beziehungsweise New Wave gute Jobs ablieferten. Die nächtliche Vorstellung stand im starken Kontrast zum Konzert mit meiner Ostberliner Lieblingsband Formel I (Heavy Metal), die ich an diesem Abend live im Palast der Republik erlebt hatte. Daran musste ich beim Lesen dieser Zeilen denken. Angesichts des Zeitpunktes des Konzertes von REO Speedwagon (1979) darf man dieses Ton- und Bilddokument getrost als historische Momentaufnahme aus jener Zeit einordnen. Nicht mehr und nicht weniger. Es kann mitnichten Aufschluss über die Leistungsfähigkeit der Band im Verlauf ihrer gesamten Karriere geben.

  2. Kieran Whitw

    Ich hab mir das ganze Konzert gerade auf YouTube angesehen. Absolut stark, mitreißend und einfach Volldampf bis zur letzten Minute und trotzdem melodisch.
    Einfach spitze und sooooooo schlecht ist das Bild jetzt auch nicht.
    Das Konzert macht viel Spaß und ich hab mir gleich die DVD bestellt. Ich freu mich drauf.

    Wenn man das Konzert sieht und hört, wird es einem aber erst bewusst, wie schlecht heutige Rockmusik ist.
    Perfekte HD-Qualität von mir aus, aber eben so seelenlos und langweilig.
    Da bleib ich lieber nach wie vor in den 70ern!

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