Gerne teile ich Alben in zwei Kategorien ein: Jene, die schon nach dem ersten oder spätestens zweiten Durchlauf zünden und die Produktionen, die mehrere Durchgänge benötigen. Doch es gibt darüber hinaus Platten, die verlangen nach mehr, weil man beim Hören davon nicht mehr loskommt. Das hört sich nach Suchtfaktor an und genau damit punkten Ricochet mit ihrem Album "Kazakhstan". Es müssen nicht immer die großen Namen sein, die begeistern, wenn es hierzulande um eingängigen Progressive Rock in Verbindung mit Rock und Metal geht. "Kazakhstan" folgt auf die eigenen Longplayer "Among The Elements" (1996) und Zarah – A Teartown Story (2005).
Es stellt sich die Frage, wie die Hamburger dazu kamen, ihr neuestes Werk nach einer ehemaligen Sowjetrepublik, geographisch Zentralasien zugehörig, zu benennen. So wie in der Musik von Ricochet verschiedene Einflüsse zu finden sind, so unterschiedlich ist die Region in Kasachstan ausgeprägt, geben die Musiker zu bedenken – ein Kosmos zwischen Europa, China und der arabischen Welt. Der scheinbare Widerspruch zwischen Tradition und Moderne spiegelt sich in den neun Tracks wider. Ein Grund, sich mit Kasachstan auseinanderzusetzen, sind nach Bandangaben ebenfalls die umweltzerstörerischen Auswirkungen des Menschen in die Natur. Aktuelle Themen als Grundstock für die musikalische Auseinandersetzung auf einem hohen Niveau. Auf dem Albumcover wird dies bereits deutlich: Ein Surfer steht vor einem ausgetrockneten See. Es ist eine Situation zwischen Resignation und Hoffnung.
Alles klingt nach einem Konzeptalbum. Das soll und will "Kazakhstan" jedoch nicht sein. Trotzdem rücken Titellänge und Komplexität der Stücke dieses Album in eine solche Nähe. Sicher hingegen ist, dass es das erste Album der Band mit Sänger Michael Kreuter ist. Dessen Stimme trägt dem Anspruch der Produktion Rechnung. Dessen Gesangsleistung erhält das passende instrumentale Gegengewicht. Das wiederum mündet gegenüber dem Vorgängeralbum in härteren Sounds. Den Grundstock liefert das Songwriting, wobei Ricochet im Kern mit Björn Tiemann (Keyboards), Gitarrist Heiko Holler und Schlagzeuger Jan Keimer auf ein seit den frühen 1990er Jahren gefestigtes Fundament zurückgreifen kann. Bassist Hans Strenge ist ebenfalls seit über 20 Jahren dabei, Michael Keuter seit nunmehr fast zehn Jahren.
Der Sänger war jahrelang in der Uriah-Heep-Coverband Easy Livin' aktiv, machte aber auch mit Mitgliedern der bekannten Band Helloween Musik. Keyboarder Björn Tiemann war in den späten 90er Jahren beispielsweise mit Kingdom Come auf Europatournee. Welches Gespür für ein feinfühliges Songwriting auf "Kazakhstan" vorliegt, lässt sich einerseits nur vermuten, viel wichtiger aber ist, wie es sich im Ergebnis anhört. Die neun Songs folgen einem klaren Stil – Konzeptalbum oder nicht. Der 6:40 Minuten lange Opener "The Custodians" gibt gewissermaßen die Richtung vor, weil die Spielfreude mit ausgefeilten Instrumentalteilen, dem eingängigen Refrain und darüber hinaus unter Einbeziehung arabischer Klänge die Weichen stellt. Der harte Gitarrenriff zum Auftakt will gar nicht mehr aus meinem Ohrgang.
Das anschließende "King Of Tales" legt eine Schippe beim Tempo drauf. Ein angenehmer Ohrwurm mit einer Spiellänge von 4:37 Minuten – und damit die kürzeste Nummer auf "Kazakhstan". Das folgende "Farewell" lässt eingangs vermuten, wir erleben hier ein Progressive-Feuerwerk in Form eines Instrumentals. Dies löst sich allerdings nach drei Minuten auf. Was über die weiteren sechs Minuten zu sagen ist: Wir erleben ein Fest, einen Knaller, einen magischen Moment in symphonischer-progressiver Komposition mit einer düsteren-melancholischen Stimmung. Wie von einer anderen Welt. Dazu bleiben uns insgesamt neun lange Minuten zum Träumen.
Auch die anderen Stücke nehmen diesen Trend und die hohe Qualität auf. Neben "Farewell" nehme ich "Waiting For The Storm" und den Titelsong "Kazakhstan" in meine Favoritenliste auf. Damit sind zugleich die Anspieltipps genannt. "Kazakhstan" sorgt mit seinem harten Riff und dem ausufernden Keyboardsolo bei einer Spiellänge von sieben Minuten für einen außergewöhnlichen Farbtupfer zum Abschluss.
Die Corona-Pandemie verzögerte die Fertigstellung des Albums, da eine beabsichtigte Zusammenarbeit in vollständiger Größe vor dem Herbst 2021 nicht möglich war. "Kazakhstan" entstand als Eigenproduktion und wird über Timezone Distribution veröffentlicht. In naher Zukunft soll es wieder Liveauftritte geben, um damit an die erfolgreiche Live-Historie, unter anderem mit einem Auftritt beim Wacken Open-Air 1998, anknüpfen zu können. Wie bereits bei den Vorgängeralben, vertraute die Crew von Ricochet erneut auf das absolute Gehör und die technischen Fähigkeiten von Soundengineer Jens Lück und dem Art of Music-Studio.
Dem Autor dieser Zeilen bleibt nur noch, Ricochet alles Gute auf dem weiteren Weg zu wünschen. Vielleicht sieht man sich auf einem Konzert. Es wäre mir eine Freude. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich die Hamburger stilistisch mit Anleihen an Dream Theater, Queensryche, Threshold, Arena und ähnlichen Bands bewegen. Das sollte dem Hörer nicht entgehen. Entscheidend ist allerdings die Eigenständigkeit bei Songwriting und Präsentation. Zu dieser genialen Vorstellung sage ich: Herzlichen Glückwunsch, Daumen hoch.
Line-up Ricochet:
Michael Keuter (vocals)
Heiko Holler (guitar)
Hans Strenge (bass)
Björn Tiemann (keyboards)
Jan Keimer (drums)
Tracklist Kazakhstan:
- The Custodians (6:40)
- King Of Tales (4:37)
- Farewell (9:35)
- Interception (6:04)
- Waiting For The Storm (6:25)
- Beyond The Line (6:10)
- Losing Ground (6:55)
- Distant Shore (5:12)
- Kazakhstan (7:00)
Gesamtspielzeit: 58:38, Erscheinungsjahr: 2023
2 Kommentare
Michael Keuter
7. April 2023 um 19:08 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Mario,
ich bin der Sänger von Ricochet. Vielen Dank für das tolle Review.
Das hätte ich nicht besser schreiben können :-).
Gruß aus Hamburg
Michael
Mario Keim
8. April 2023 um 11:12 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Vielen Dank, Michael. Es war mir ein Vergnügen. In der Tat waren nur zwei Durchläufe nötig und das Review war in der Tasche. Der Rest war die Kür. Mitunter staunt man über einen solchen Text und stellt fest: Die ‚Großen‘ kommen auch nicht besser weg:-). Alles in allem eine runde Sache, nicht nur wegen der Form der CD. Ehre wem Ehre gebührt, rufe ich Euch deshalb gerne zu. Mein Hinweis zu den Liveaktivitäten ist purer Eigennutz. Gern wäre ich einmal Konzertbesucher bei Euch. Noch ein Zusatz: Mich faszinieren Bands mit einem gefestigten Line-up, weil dies zuweilen einen Exotenstatus verdient.
2023 ist Hamburg aus zeitlichen Gründen weit weg. Also 2024 oder bei einem Gastspiel tief im Süd.
LG Mario